Von Man­fred Gerber

Glanz und Elend des Davidsterns

Abriss der jüdi­schen Geschich­te Wiesbadens

Schutz­geld und ein­ge­schränk­te Rechte:
Die Vorgeschichte

Es dürf­ten schon in der Römer­zeit Juden in Aquae Mat­ti­a­corum, dem anti­ken Wies­ba­den, gelebt haben. Der ers­te Jude, mit dem Namen Kir­san, wird urkund­lich im Jahr 1385 erwähnt. Spä­ter waren es immer nur ein­zel­ne Juden, die in Wies­ba­den leb­ten, anders als in Mainz, Worms und Spey­er, wo sich schon seit der Römer­zeit über das gan­ze Mit­tel­al­ter blü­hen­de jüdi­sche Gemein­den befan­den. 1427 wird von einem Juden Geb­hardt berich­tet, der in der Nähe des heu­ti­gen Michels­bergs ein Haus besaß. 1518 wur­de der Jude Jakob aus Nürn­berg akten­kun­dig, weil er ein jähr­li­ches Schutz­geld zu zah­len hat­te. 1570 wohn­te ein Jude mit Namen Moses in der Mühl­gas­se. Sie war damals auch als „Juden­gas­se“ bekannt. Der Name ging spä­ter auf die Metz­ger­gas­se, die heu­ti­ge Wage­mann­stra­ße, über, in der sich auch eine „Juden­schu­le“ befand. Ein Ghet­to hat es in Wies­ba­den nie gege­ben. Die weni­gen jüdi­schen Fami­li­en wohn­ten offen­bar unter den übri­gen Bür­gern, aber mit weni­ger Rech­ten. Sie durf­ten kein Land besit­zen, kei­ner Hand­wer­ker­zunft ange­hö­ren und kei­nen Mili­tär­dienst leis­ten. Der Jude Nathan erhielt 1638 die Erlaub­nis, sich für ein Jahr in Wies­ba­den nie­der­zu­las­sen. Zu die­ser Zeit war man vom Bau einer gro­ßen Syn­ago­ge noch weit ent­fernt. Trotz der klei­nen Zahl an Jüdin­nen und Juden gin­gen immer wie­der Beschwer­den bei den Wies­ba­de­ner Obrig­kei­ten über die jüdi­schen Nach­barn ein.

Der Stolz des jüdischen Bürgertums: die Synagoge am Michelsberg Wiesbaden 1869. (Abbildung: Stadtarchiv Wiesbaden, F.-Nr. 003191)

Der Stolz des jüdi­schen Bür­ger­tums: die Syn­ago­ge am Michels­berg 1869.
(Abbil­dung: StadtA WI  F000-3191)

Der Syn­ago­gen­bau 1869: Ein Sym­bol der Emanzipation

Ein Stück Jeru­sa­lem mit­ten in Wies­ba­den soll­te sie wer­den, die neue Syn­ago­ge auf dem Michels­berg. Kei­nen Gerin­ge­ren als den Nas­saui­schen Hof­bau­meis­ter Phil­ipp Hoff­mann (1806 – 1889) hat­te die Israe­li­ti­sche Kul­tus­ge­mein­de aus­er­ko­ren, sie zu bau­en. Hoff­mann hat­te in Wies­ba­den schon die römisch-katho­li­sche Boni­fa­ti­us­kir­che (1849) am Lui­sen­platz und die Rus­si­sche Kir­che auf dem Ner­oberg (1855) ent­wor­fen. Dass er nun auch die Syn­ago­ge bau­en soll­te, war Aus­druck der reli­giö­sen Tole­ranz und der all­ge­mein herr­schen­den libe­ra­len Geis­tes­hal­tung in der Mit­te des 19. Jahr­hun­derts, eine Fol­ge der Auf­klä­rung und der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on mit ihrer Pro­kla­ma­ti­on der Men­schen- und Bür­ger­rech­te.

Phil­ipp Hoff­mann ent­warf die Syn­ago­ge auf dem Grund­riss eines byzan­ti­ni­schen Zen­tral­baus. Damit spiel­te er auf die gemein­sa­men Wur­zeln von Juden­tum und Chris­ten­tum an. Wenn man so will, war die Bau­ab­fol­ge der neu­en Wies­ba­de­ner Got­tes­häu­ser in der Mit­te des 19. Jahr­hun­derts eine Art in Stein gemau­er­te Lessing‘sche Ring­pa­ra­bel. Alle Reli­gio­nen soll­ten ihre gleich­ran­gi­ge Berech­ti­gung haben. 1864 war die Angli­ka­ni­sche Kir­che in der Klei­nen Wil­helm­stra­ße fer­tig gestellt wor­den. Der täg­li­che Umgang mit Kur­gäs­ten aus Russ­land, Eng­land und den USA führ­te zwangs­läu­fig zur Welt­läu­fig­keit Wies­ba­dens. Mit Fer­tig­stel­lung der Syn­ago­ge konn­te es jeder, der in Rich­tung Michels­berg blick­te, sehen: Die Juden waren jetzt aner­kann­te Bür­ger der Stadt. Der gera­de­zu mär­chen­haft-majes­­tä­­ti­­sche gro­ße Zwie­bel­turm mit sei­nen gol­de­nen Ster­nen auf azur­blau­em Grund und dem David­stern auf der Kup­pel war weit­hin sicht­bar. Die Syn­ago­ge war ein neu­es Wahr­zei­chen Wies­ba­dens geworden.

In der alten, 1826 an der Schwal­ba­cher Stra­ße erbau­ten Syn­ago­ge hat­ten sich bald Bau­män­gel bemerk­bar gemacht. Rab­bi­ner Ben­ja­min Hoch­städ­ter setz­te sich früh für einen Neu­bau ein, doch die Jüdi­sche Gemein­de zog nicht mit.
Schließ­lich wur­de es auf­grund des wei­te­ren Zuzugs von Juden dort doch zu eng. Die Gemein­de wuchs näm­lich von 200 Mit­glie­dern im Jahr 1833 auf 550 im Jahr 1863 an. Schon 1857 hat­te sie genü­gend Geld bei­sam­men, um einen Neu­bau zu finan­zie­ren. Die Nas­sau­er Bau­be­am­ten erwie­sen sich als unwil­lig und ver­zö­ger­ten die Bau­ge­neh­mi­gung. Aber dann soll Her­zog Adolph ein­ge­grif­fen und das „Gesuch“ zur Bebau­ung eines Grund­stücks am Michels­berg bewil­ligt haben. 1862 mach­te sich Phil­ipp Hoff­mann an die Arbeit. Ein Jahr spä­ter leg­te er die ers­ten Plä­ne vor, wor­auf­hin man die Bau­ge­neh­mi­gung erteilte.

Für die Wei­ter­ent­wick­lung der jüdi­schen Bau­kul­tur in Deutsch­land hat­te Gott­fried Sem­per (1803 – 1879) mit sei­ner Syn­ago­ge in Dres­den (1840) das rich­tung­wei­sen­de Vor­bild gege­ben. Sem­per bau­te sie im so genann­ten mau­ri­schen Stil, mit Rund­bö­gen als gestal­ten­dem Ele­ment. Mau­risch stand syn­onym für ori­en­ta­lisch, der Fel­sen­dom war der Topos für Jeru­sa­lem. Der Fel­sen, auf dem er steht, soll, der Über­lie­fe­rung nach, der Ort des Brand­op­fers im jüdi­schen Tem­pel gewe­sen sein. Auf ihm soll der Stamm­va­ter Abra­ham einen Wid­der anstel­le sei­nes Soh­nes Isaak geop­fert haben. Phil­ipp Hoff­mann bau­te am Michels­berg jeden­falls das, was sich das deut­sche Bil­dungs­bür­ger­tum unter einem salo­mo­ni­schen Tem­pel vor­stell­te. Hat­te sich Hoff­mann für den Bau der Rus­si­schen Kir­che in St. Peters­burg und Ita­li­en umge­se­hen, so reis­te er dies­mal nach Bad Cannstatt, um sich von einer Vil­la inspi­rie­ren zu las­sen, die der Archi­tekt Lud­wig Zanth für König Wil­helm I. von Würt­tem­berg gebaut hatte.

Auch inspi­zier­te er die neue Syn­ago­ge in Köln (1861) von Dom­bau­meis­ter Ernst Fried­rich. Sie war eben­falls im gera­de in Mode gekom­me­nen mau­ri­schen Stil erbaut wor­den. Auch die Trau­er­hal­le auf dem Jüdi­schen Fried­hof an der Plat­ter Stra­ße (1891) ist in die­sem Stil errichtet.

Beim Syn­­a­go­­gen-Vor­­­gän­­ger­­bau in der Schwal­ba­cher Stra­ße hat­te die Nas­sau­er Staats­re­gie­rung noch zur Auf­la­ge gemacht, dass sie im Stadt­bild nicht wei­ter auf­fal­len dür­fe. „Der Juden­ge­sang beläs­tigt dann auch die Vor­über­ge­hen­den weni­ger, als wenn sich die Syn­ago­ge in der Stra­ßen­li­nie befin­det“, schrieb Bau­in­spek­tor Karl Fried­rich Faber, der das Gebäu­de plan­te. Mit die­ser Bemer­kung dürf­te er den Geist sei­ner Zeit reprä­sen­tiert haben. Als man 1826 von der Vor­­­gän­­ger-Syn­­a­go­­ge in der Obe­ren Weber­gas­se in die Schwal­ba­cher Stra­ße umzog und in einem fei­er­li­chen Zug die Tho­ra­rol­le in die neue Syn­ago­ge tra­gen woll­te, lehn­te das Staats­mi­nis­te­ri­um das Ansin­nen noch brüsk ab: „Den Juden ist über­haupt kein öffent­li­cher Ritus gestat­tet, indem sie nicht die Rech­te einer Kir­che genie­ßen, son­dern nur in der Stil­le tole­riert sind.“

Bau­meis­ter Phil­ipp Hoff­mann (1806 – 1889)
(Abbil­dung: Archiv Wies­ba­de­ner Kurier)

Ein­wei­hung mit Syn­ago­gen­ge­sang­ver­ein: König­li­cher Besuch im Kurhaus

Das war jetzt, in den spä­ten 1860er Jah­ren, anders gewor­den. Am Nach­mit­tag des 13. August 1869 zog eine gro­ße Gemein­de­schar, etwa 500 Per­so­nen, mit den Tho­ra­rol­len und Dank- und Lob­preis­ge­sän­gen auf der Schwal­ba­cher Stra­ße fei­er­lich hin­auf zum Michels­berg, die Schul­ju­gend vor­an. Es folg­ten die Trä­ger der Tho­ra­rol­len und weiß­ge­klei­de­te Mäd­chen mit dem Syn­ago­gen­schlüs­sel. Unter den Teil­neh­mern befan­den sich auch Bau­meis­ter Phil­ipp Hoff­mann, gelei­tet vom Vor­stand der Gemein­de und Rab­bi­ner Dr. Samu­el Süß­kind an der Spit­ze, dazu Geist­li­che der ver­schie­de­nen Kon­fes­sio­nen, wie der evan­ge­li­sche Bischof Wil­helm Wil­hel­mi, und Ver­tre­ter der Zivil- und Mili­tär­be­hör­den. 500 Plät­ze besaß die neue Syn­ago­ge. Am Tag der Wei­he konn­te sie das Publi­kum jedoch bei wei­tem nicht fas­sen. Eine rie­si­ge Zuschau­er­men­ge hat­te sich ent­lang der Schwal­ba­cher Stra­ße und am Michels­berg aufgestellt.

„Es war“, berich­te­te ein Augen­zeu­ge, „ein wei­he­vol­ler Moment, als unter den Klän­gen der Orgel die ältes­ten Gemein­de­mit­glie­der mit den aus der alten Syn­ago­ge her­über getra­ge­nen Tho­ra­rol­len den neu­en herr­li­chen Tem­pel durch schrit­ten, als der Rab­bi­ner Süß­kind die­se in die hei­li­ge Lade stell­te und mit dem Segens­spruch die ewi­ge Lam­pe anzün­de­te.“ Gesang und Orgel­spiel setz­te ein, als der Zug in die Syn­ago­ge schritt. Es folg­te die Kan­ta­te „O wie schön sind dei­ne Zel­te, Jakob!“, schrieb der Bericht­erstat­ter des Rhei­ni­schen Kuriers über das Ereignis.

Am Vor­abend der Wei­he war sogar König Wil­helm von Preu­ßen, der spä­te­re Deut­sche Kai­ser Wil­helm I., ins (alte) Kur­haus gekom­men, um sich ein Kon­zert des Syn­­a­go­­gen-Gesan­g­­ver­­eins anzu­hö­ren und auf die­se Wei­se der Israe­li­ti­schen Kul­tus­ge­mein­de sei­ne Auf­war­tung zu machen. Der Ein­wei­hungs­fei­er war ein Abschieds­got­tes­dienst in der alten Syn­ago­ge vorausgegangen.

Das 19. Jahr­hun­dert: Der lan­ge Weg der Emanzipation

Die schritt­wei­se staats­bür­ger­li­che Gleich­stel­lung der Juden begann im Her­zog­tum Nas­sau, dem neu­en Rhein­bund­staat, im Jahr 1806 damit, dass es unter dem Ein­fluss Napo­le­ons den Leib­zoll für Juden abschaff­te. 1817 führ­te Nas­sau als ers­ter Staat im Deut­schen Bund Simul­tan­schu­len ein, 1819 die Schul­pflicht für jüdi­sche Kin­der. 1841 ent­fiel das Juden­schutz­geld. Von 1842 an erhiel­ten die Nas­sau­er Juden Fami­li­en­na­men. Der nächs­te Schritt war die Ein­füh­rung der Wehr­pflicht 1846. Einen wei­te­ren Schub in Rich­tung recht­li­cher Gleich­stel­lung bewirk­te der frei­heit­li­che Geist der Revo­lu­ti­on von 1848/ 49, in deren Fol­ge man in Nas­sau wei­te­re Geset­ze zur Gleich­be­rech­ti­gung der Juden for­mu­lier­te, auch wenn es in länd­li­chen Gegen­den zur sel­ben Zeit auch Pogro­me gegen die jüdi­sche Bevöl­ke­rung gab. 1852 teil­te man das Her­zog­tum in 83 Syn­ago­gen­be­zir­ke ein. Und nun, 1869, war die Eman­zi­pa­ti­on der Juden für alle unüber­seh­bar im Wies­ba­de­ner Stadt­bild verkörpert.

35 Meter rag­te die Mit­tel­kup­pel in die Höhe. Ein reprä­sen­ta­ti­ver Bau in einer expo­nier­ten Lage. Eini­ge Jah­re zuvor hat­ten Wies­ba­dens Pro­tes­tan­ten noch über­legt, ob sie auf dem Michels­berg nicht den Ersatz für die 1850 abge­brann­te Mau­ri­ti­us­kir­che bau­en soll­ten. Sie ent­schie­den sich dann für den Stand­ort der heu­ti­gen Markt­kir­che (1862). Der Name Michels­berg ver­weist auf die Micha­els­ka­pel­le, die auf dem dor­ti­gen Fried­hof gestan­den hatte.

Die neue Syn­ago­ge war eine städ­te­bau­li­che Auf­wer­tung mit span­nen­den neu­en Sicht­be­zie­hun­gen. Der gro­ße Zwie­bel­turm der Syn­ago­ge hielt Zwie­spra­che mit den Tür­men der evan­ge­li­schen Markt­kir­che und der katho­li­schen St. Boni­fa­ti­us­kir­che. Gleich­zei­tig bezog sich die Syn­ago­ge mit ihren vier klei­nen Zwie­bel­tür­men auf die Rus­si­sche Kir­che auf dem Neroberg.

Auch die Gestal­tung des Innern schloss an die pracht­vol­le, äuße­re Form­ge­bung an. So war das Kup­pel­ge­wöl­be der drei­schif­fi­gen Syn­ago­ge mit ver­gol­de­ten Ster­nen auf blau­em Grund ver­ziert. Die vier frei­ste­hen­den Kup­pel­pfei­ler, die Halb­säu­len und Gurt­bö­gen glänz­ten durch ihre üppi­ge orna­men­ta­le Aus­stat­tung. Die blau, grau, grün und rot ver­zier­ten Wän­de schu­fen eine sakra­le Atmo­sphä­re. Das durch die Mit­tel­kup­pel ein­fal­len­de Licht ver­lieh dem Raum Erha­ben­heit. Über die klei­nen Kup­pel­tür­me bestie­gen die Frau­en ihre Empo­re, gelang­te der Rab­bi­ner zu sei­nem Zim­mer und der Orga­nist zur Orgel. Die Frau­en durf­ten aber auch unten bei den Män­nern sit­zen. Die Kan­zel vor der Apsis war aus Nas­sau­er Mar­mor. Gegen­über stand der Sie­ben­ar­mi­ge Leuch­ter. Dahin­ter befand sich unter einem reich ver­zier­ten Bal­da­chin das Aller­hei­ligs­te, der Tho­ra­schrein. Sei­ne mar­mor­nen Säu­len tru­gen ein gol­de­nes Dach. Far­bi­ges Licht fiel durch ein Rund­fens­ter ein und über­strahl­te den hei­li­gen Bezirk. Der Bal­da­chin besaß Ähn­lich­kei­ten mit dem in der 1858 ein­ge­weih­ten Syn­ago­ge in der Ora­ni­en­bur­ger Stra­ße in Ber­lin. Meis­ter­haft hat­te Phil­ipp Hoff­mann das Pro­blem gelöst, auf dem ver­hält­nis­mä­ßig klei­nen Bau­platz einen impo­san­ten Bau zur Wir­kung zu brin­gen. Der David­stern glänz­te nicht nur über der Haupt­kup­pel, er zog sich als Motiv durch das gan­ze Gebäu­de, sei­nen Grund­riss und sei­ne Fassaden.

Mit der Reichs­ver­fas­sung von 1871 wur­den die deut­schen Juden gleich­be­rech­tig­te Bür­ger im damals neu geschaf­fe­nen Kai­ser­reich. Rechts­si­cher­heit und ein gutes Maß an Frei­heit ermög­lich­ten ihnen den gesell­schaft­li­chen Auf­stieg in das Bür­ger­tum. In Wies­ba­den arbei­te­ten vie­le Juden als ange­se­he­ne Ärz­te und Rechts­an­wäl­te. Salo­mon Herx­hei­mer (1842 1899), zum Bei­spiel, war Fach­arzt für Haut­krank­hei­ten. Sein Bru­der Karl Herx­hei­mer (1861 1942) war Direk­tor der Städ­ti­schen Haut­kli­nik, Gehei­mer Medi­zi­nal­rat und Trä­ger des Eiser­nen Kreu­zes am wei­ßen Band. Ben­ja­min Wolff (1845 1892), Mit­glied der Alt-Israe­­li­­ti­­schen Kul­tus­ge­mein­de, war der ers­te jüdi­sche Stadt­ver­ord­ne­te in Wies­ba­den. Spä­ter, in den 20er Jah­ren des 20. Jahr­hun­derts, wirk­ten am Wies­ba­de­ner Musik­thea­ter der Diri­gent Otto Klem­pe­rer und der Kom­po­nist Ernst Kre­nek, der Musik­di­rek­tor Otto Rosen­stock und der Opern­sän­ger Alex­an­der Kip­nis. Unter der Inten­danz von Paul Bek­ker genoss das Musik­le­ben der Kur­stadt inter­na­tio­nal einen her­vor­ra­gen­den Ruf, auch dank wei­te­rer zahl­rei­cher jüdi­scher Künst­ler, die zumin­dest zeit­wei­lig in Wies­ba­den lebten.

Der gebür­ti­ge Bres­lau­er Otto Klem­pe­rer war einer der bedeu­tends­ten Diri­gen­ten des 20. Jahr­hun­derts und von 1924 bis 1927 unter dem Inten­dan­ten Carl Hage­mann Wies­ba­de­ner Gene­ral­mu­sik­di­rek­tor. Paul Bek­ker war von 1927 bis 1932 Gene­ral­inten­dant des Wies­ba­de­ner Thea­ters und nahm etli­che zeit­ge­nös­si­sche Wer­ke in sei­nen Spiel­plan auf. Ihm ver­dankt Wies­ba­den die Wie­der­be­le­bung der Mai­fest­spie­le, der frü­he­ren Kai­ser­fest­spie­le, im Jahr 1928. Die Künst­ler gehör­ten zwar nicht zum Kern der Jüdi­schen Gemein­de, sie tru­gen aber zum Anse­hen der jüdi­schen Wies­ba­de­ner bei.

Zu den jüdi­schen Per­sön­lich­kei­ten der Stadt gehör­te auch der Chef­re­dak­teur des Wies­ba­de­ner Tag­blatts Her­mann Lekisch, der neben­bei auch Schau­spie­le schrieb. Dem libe­ral ein­ge­stell­ten Jour­na­lis­ten wur­de 1933 gekündigt.

Zusam­men mit sei­ner Schwes­ter Emmy wur­de er im Juni 1942 nach Sobi­bor depor­tiert und in der Gas­kam­mer ermor­det. An Her­mann Lekisch erin­nert seit Okto­ber 2010 ein „Stol­per­stein“ vor dem Pres­se­haus in der Lang­gas­se 21.

Kup­peln und Tür­me: Syn­ago­ge mit Markt­kir­che im Hintergrund.
(Abbil­dung: StadtA WI F000-5241)

Typisch Hoff­mann: Rund­bö­gen auch im Innern
(Abbil­dung: StadtA WI F000-481)

Gesta­po Kar­tei­kar­te von Her­mann Lekisch. Letz­ter zyni­scher Ein­trag: 10.06.42: Nach dem Osten evakuiert.
(Abbil­dung: Jüdi­sche Gemein­de Wies­ba­den. StadtA WI NL 210 Nr. 1)

Das libe­ra­le Judentum

Das bür­ger­lich libe­ra­le Juden­tum war es auch, das den Geist der Israe­li­ti­schen Kul­tus­ge­mein­de präg­te. Hier spiel­te Abra­ham Gei­ger (1810 1874) eine maß­geb­li­che Rol­le. Obwohl er den Bau der Syn­ago­ge nicht mehr als Rab­bi­ner beglei­tet, wur­de sie doch erst nach sei­nem Weg­gang aus Wies­ba­den erbaut, wirk­ten sei­ne Ideen und Impul­se in der Gemein­de nach.

Gei­ger ver­such­te, in der Nach­fol­ge Moses Men­dels­sohns (1729 1786) die neu­en Erkennt­nis­se aus Wis­sen­schaft und Tech­nik mit Reli­gi­on, Ver­nunft und Glau­ben zu ver­söh­nen, ganz ähn­lich wie auf pro­tes­tan­ti­scher Sei­te die Theo­lo­gen Fried­rich Schlei­er­ma­cher (1768 1834) und Albrecht Rit­schl (1822 1889). In sei­ner Wies­ba­de­ner Zeit gab Abra­ham Gei­ger die „Zeit­schrift für jüdi­sche Theo­lo­gie“ her­aus. Weil ihm der Her­zog das Lan­des­rab­bi­nat ver­wei­ger­te, sah er schließ­lich kei­ne Wir­kungs­mög­lich­keit mehr in Wies­ba­den und ging 1838 nach Bres­lau, spä­ter nach Frank­furt am Main und schließ­lich nach Ber­lin, wo er von 1872 an der Hoch­schu­le für Wis­sen­schaft des Juden­tums lehr­te. Die Ein­wei­hung der neu­en Syn­ago­ge am Michels­berg nahm dann der Rab­bi­ner Dr. Samu­el Süß­kind vor, der von 1844 bis 1884 in Wies­ba­den sein Amt aus­üb­te. Die geis­ti­ge Vor­ar­beit für den nach dama­li­gen Maß­stä­ben als fort­schritt­lich emp­fun­de­nen Syn­ago­gen­bau haben Reli­gi­ons­wis­sen­schaft­ler wie Abra­ham Gei­ger geleis­tet. Immer­hin ließ Gei­ger es sich nicht neh­men, bei der Ein­wei­hung der Wies­ba­de­ner Syn­ago­ge dabei zu sein.

Anti­se­mi­tis­mus war in der „Kur- und Frem­den­stadt“ Wies­ba­den im 19. Jahr­hun­dert weit­aus gerin­ger aus­ge­prägt als in man­chen ande­ren Klein­städ­ten. Mit dem Zuzug von meist ärme­ren und ortho­dox ori­en­tier­ten Juden aus Russ­land zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts, die sich über­wie­gend im West­end ansie­del­ten, wuch­sen aller­dings die Span­nun­gen unter den Wies­ba­de­ner Juden. Es ent­stan­den Kon­flik­te zwi­schen Arm und Reich, zwi­schen „Ost­ju­den“ und eta­blier­ten Bür­gern, die zum Teil nichts mit den mit­tel­lo­sen Neu­an­kömm­lin­gen zu tun haben woll­ten, auch ent­stan­den Span­nun­gen zwi­schen ortho­do­xer und libe­ra­ler Glau­bens­rich­tung. 1925 waren rund drei Pro­zent der Wies­ba­de­ner Bevöl­ke­rung Juden, etwa ein Drit­tel stamm­te aus Ost­eu­ro­pa. Vor allem in der Fol­ge der Pogro­me in Russ­land in den Jah­ren 1903 bis 1906, denen über 2.000 Men­schen zum Opfer gefal­len waren, sind vie­le Juden aus dem Osten nach West­eu­ro­pa gekommen.

Span­nun­gen gab es aber auch, weil die Ost­ju­den durch ihr äuße­res Erschei­nungs­bild dem Anpas­sungs­be­mü­hen der deut­schen Juden aus der Zeit vor dem Ers­ten Welt­krieg entgegenstanden.

Jüdi­sche Geschäf­te gehör­ten Anfang des 20. Jahr­hun­derts selbst­ver­ständ­lich zum Wies­ba­de­ner Stadt­bild. Im West­end besaß zum Bei­spiel Ephra­im Tie­fen­brun­ner in der Herr­mann­stra­ße 3 einen Laden. Er ver­kauf­te kosche­re Wurst, die er via Nacht­ex­press aus einer Ber­li­ner Schlach­te­rei bezog. Sein Kon­kur­rent war Isaak Alt­mann in der Hele­nen­stra­ße 33. Zwi­schen 1905 und 1928 ström­ten auch vie­le Juden aus Ost­mit­tel­eu­ro­pa nach Wies­ba­den, vor allem aus dem pol­ni­schen Gali­zi­en, das bis 1919 zu Öster­reich-Ungarn gehört hat­te. Vie­le, die im West­end zwi­schen Schwal­ba­cher und Scharn­horst­stra­ße, Emser, Bert­ram- und Goe­ben­stra­ße wohn­ten, waren mit­ein­an­der ver­wandt. Sie spra­chen Jid­disch, eine dem Mit­tel­hoch­deut­schen ähneln­de Spra­che mit sla­wi­schen und hebräi­schen Ele­men­ten und hebräi­scher Schrift. Sie besa­ßen, auch wenn sie for­mal der Israe­li­ti­schen Kul­tus­ge­mein­de am Michels­berg ange­hör­ten, ihre eige­nen Bethäu­ser, jid­disch „Stibl“ genannt. Etwa 25 Fami­li­en zähl­ten sich zu den beson­ders from­men Chassidim.

Eines der erfolg­rei­chen Wies­ba­de­ner Unter­neh­men führ­te der jüdi­sche Fabri­kant Dr. Leo­pold Kat­zen­stein. Der in Thü­rin­gen gebo­re­ne Arzt betrieb in Wies­­ba­­den-Erben­heim die „Phar­ma­zeu­ti­sche Indus­trie Dr. Kat­zen­stein“. Die „Kin­­der-Risi­­ne­t­­ten“, die sie pro­du­zier­te, waren nütz­lich gegen Rachen‑, Kehl­­kopf- und Bron­chi­al­ka­tarrh. Leo­pold Kat­zen­stein wur­de im KZ Sach­sen­hau­sen, sei­ne Frau Doro­thea in Ausch­witz ermordet.

Das jüdi­sche Wies­ba­den war ein man­nig­fal­ti­ger Kos­mos. Sei­ne sozia­le Band­brei­te reich­te vom unauf­fäl­li­gen armen Ange­stell­ten ohne Erwerb bis zum ange­se­he­nen Großbürger.

Reform­ju­den­tum und Alt-Israe­­li­­ten: Die Spaltung

Die lit­ur­gi­sche Annä­he­rung an den christ­li­chen Ritus durch die „Orgel­syn­ago­ge“ am Michels­berg war es den Geset­zes­treu­en unter den Gemein­de­mit­glie­dern aller­dings zu viel der Refor­men und der Anpas­sung. Aus der Sicht der „From­men“ hat­ten sich die „Libe­ra­len“ zu weit von den Vor­vä­tern ent­fernt. Die Ortho­do­xen miss­bil­lig­ten sowohl den Ein­bau einer Orgel als auch die Exis­tenz des 1863 gegrün­de­ten Syn­ago­gen­ge­sang­ver­eins, in dem auch Frau­en mit­wir­ken durf­ten, und beharr­ten auf einer kla­ren Abgren­zung gegen­über der christ­lich gepräg­ten Umwelt. Auch dass die Libe­ra­len die Regeln des Schab­bath nicht mehr befolg­ten, stieß auf Miss­fal­len. 1878 tra­ten rund 40 Fami­li­en aus der Israe­li­ti­schen Kul­tus­ge­mein­de aus und grün­de­ten die Alt-Israe­li­ti­sche Kul­tus­ge­mein­de. Sie war eine der ers­ten „Aus­tritts­ge­mein­den“ Preu­ßens und bau­te in der Fried­rich­stra­ße ihre eige­ne, 1897 ein­ge­weih­te Syn­ago­ge. Hier wur­de der Got­tes­dienst wie­der nach der geset­zes­treu­en Tra­di­ti­on gestaltet.

Ein hal­bes Jahr­hun­dert lang, von 1876 bis 1925, präg­te der Rab­bi­ner Dr. Leo Kahn (1888 1951) das reli­giö­se Leben der Alt-Israeliten.

„Als ers­tes brau­che ich eine Mik­we“, soll Kahn, der aus dem badi­schen Sulz­burg stamm­te, bei sei­ner Ankunft in Wies­ba­den gesagt haben.

Denn in der Syn­ago­ge am Michels­berg gab es kein ritu­el­les Bad mehr. Also beleb­ten die ortho­do­xen Juden die alte Mik­we in der Spie­gel­gas­se 9 wie­der. In die­sem Gebäu­de befin­den sich heu­te das Pari­ser Hof­thea­ter und das Akti­ve Muse­um Spie­gel­gas­se für deutsch-jüdi­­sche Geschich­te. Von Kahns Nach­fol­ger, dem aus Nürn­berg stam­men­den Dr. Jonas Ans­ba­cher (1879 1967), ist die Aus­sa­ge über­lie­fert, dass Kahn sei­ne Gemein­de „wie ein Adler sein Nest beschützt“ habe, in tie­fer Fröm­mig­keit, gro­ßer Gelehr­sam­keit und hin­rei­ßen­der Bered­sam­keit. Ans­ba­cher war von 1925 bis Ende 1938 Rab­bi­ner der Alt-Israe­li­ti­schen Kul­tus­ge­mein­de. Er wur­de vor­über­ge­hend im Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Buchen­wald inter­niert. 1939 gelang ihm die Flucht nach Eng­land. Von 1941 bis 1955 war er Rab­bi­ner an einer Syn­ago­ge in London.

Paul Laza­rus (1888 – 1951), der Rab­bi­ner der Israe­li­ti­schen Kul­tus­ge­mein­de, beschei­nig­te ihm: „Aus dem uner­schro­cke­nen Kämp­fer in sei­ner frü­hen Amts­zeit war er das Sym­bol eines fried­li­chen Zusam­men­le­bens bei­der Gemein­den gewor­den.“ Kahn starb im bibli­schen Alter von 94 Jah­ren, hoch geach­tet bei Juden wie bei Chris­ten. Auf sei­nem Grab­stein bezeu­gen zwei seg­nen­de Hän­de sei­ne Abstam­mung aus dem jüdi­schen Priestergeschlecht.

Paul Laza­rus war ein Mann des Brü­cken­baus: zwi­schen ortho­do­xen und libe­ra­len, armen und rei­chen Juden. Sein beson­de­res Enga­ge­ment galt der Inte­gra­ti­on der Ost­ju­den und der Wohl­fahrts­pfle­ge. Nach­dem jüdi­sche Kin­der wäh­rend der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Dik­ta­tur öffent­li­che Schu­len nicht mehr besu­chen durf­ten, küm­mer­te er sich um die Ein­rich­tung der Schu­le an der Main­zer Stra­ße, die 1936 eröff­net wurde.

Der Rab­bi­ner der Alt-Israe­­li­­ti­­schen Kultusgemeinde:
Dr. Elie­zer Leo Lip­man Kahn
(Abbil­dung: Miri­am Krai­sel — Enke­lin des Rabbiners)

Rab­bi­ner Dr. Kahn mit sei­ner Familie
(Abbil­dung: Miri­am Krei­sel — Enke­lin des Rabbiners)

Kahns Nach­fol­ger: Rab­bi­ner Dr. Jonas Ansbacher
(Abbil­dung: Akti­ves Muse­um Spiegelgasse)

Besu­cher aus aller Welt: Die jüdi­schen Friedhöfe

1750 leg­te man auf dem Kuh­berg an der Idstei­ner Stra­ße, heu­te Schö­ne Aus­sicht, den ers­ten jüdi­schen Fried­hof an. Bis dahin waren Wies­ba­de­ner Juden in Wehen beer­digt wor­den. Von 1750 an war das Are­al auf dem Kuh­berg auch die Begräb­nis­stät­te für die umlie­gen­den Gemein­den. Im Jahr 1883 wur­de hier unter ande­ren Ephra­im Ben Abra­ham Schön­ber­ger beer­digt. Auf sei­nem Grab­stein steht: „Er war ein ange­se­he­ner und got­tes­fürch­ti­ger Mann mit sei­nem gan­zen Her­zen.“ Min­des­tens genau­so ange­se­hen dürf­te der Her­zog­li­che Gehei­me Kom­mer­zi­en­rat Mar­cus Ber­lé gewe­sen sein, der es vom Gla­ser zum Grün­der eines erfolg­rei­chen Bank­hau­ses gebracht hat­te und ein gro­ßer För­de­rer der Syn­ago­ge am Michels­berg war. 1890 wur­de der Fried­hof auf dem Kuh­berg geschlos­sen. Aber bis heu­te kom­men immer noch Leu­te aus Isra­el, den USA und der gan­zen Welt hier­her, um die Grä­ber ihrer Vor­fah­ren zu besuchen.

Nach der Grün­dung der Alt-Israe­­li­­ti­­schen Gemein­de leg­te sie 1877 einen eige­nen Fried­hof am Hell­kund­weg an. Wegen der Schlie­ßung des Are­als an der „Schö­nen Aus­sicht“ erfolg­te 1891 die Ein­wei­hung des Fried­hofs an der Plat­ter Stra­ße für die Israe­li­ti­sche Kul­tus­ge­mein­de, bei­de in unmit­tel­ba­rer Nach­bar­schaft des christ­li­chen Nord­fried­hofs. Am Hell­kund­weg sind unter ande­ren die Schau­spie­le­rin am Wies­ba­de­ner Thea­ter Lui­se Wolff (gest. 1917) und der Kauf­haus­grün­der Juli­us Bacha­rach (gest. 1922) begra­ben. Die heu­ti­ge Jüdi­sche Gemein­de bestat­tet ihre Toten auf dem Fried­hof an der Plat­ter Stra­ße. Jüdi­sche Fried­hö­fe gibt es auch in den Vor­or­ten Bier­stadt, Schier­stein und Bie­brich sowie in Wal­luf. Aber sie wer­den nicht mehr benutzt.

Die seg­nen­den Hän­de der Koh­anim — der Pries­ter­stamm — auf einem Grab­stein. (Abbil­dung: Jüdi­sche Gemein­de Wies­ba­den. Foto­graf: Igor Eisenschtat)

Zwi­schen Inte­gra­ti­on und Volks­ver­het­zung: Juden­tum zwi­schen den Kriegen

Die Zeit zwi­schen den Welt­krie­gen, wäh­rend der Wei­ma­rer Repu­blik, war für Wies­ba­dens Juden zwie­späl­tig. Die deut­sche Kriegs­nie­der­la­ge von 1918 und die dar­auf fol­gen­de wirt­schaft­li­che Not bewirk­ten einer­seits einen neu­en, sich ver­schär­fen­den Anti­se­mi­tis­mus, ande­rer­seits gab es in Wies­ba­den Plä­ne, am heu­ti­gen Platz der deut­schen Ein­heit ein moder­nes jüdi­sches Gemein­de­zen­trum zu schaf­fen und die Inte­gra­ti­on wei­ter voranzutreiben.

Wirt­schaft­li­cher Nie­der­gang, die als extrem unge­recht emp­fun­de­nen Bestim­mun­gen des Ver­sailler Frie­dens­ver­trags (1919) und die Demü­ti­gun­gen durch fran­zö­si­sche Besat­zungs­trup­pen begüns­tig­ten auch in Wies­ba­den ein anti­jü­di­sches Kli­ma. Wie­der muss­ten Jüdin­nen und Juden als Sün­den­bö­cke her­hal­ten. Vor allem rechts­extre­me Kräf­te stell­ten Juden als für die Nie­der­la­ge des Deut­schen Rei­ches im Ers­ten Welt­krieg Ver­ant­wort­li­che dar und hetz­ten gegen sie in einem Atem­zug mit den „Novem­ber­ver­bre­chern“. Gemeint waren damit die „Wei­ma­rer Par­tei­en“ SPD und USPD, die libe­ra­le Deut­sche Demo­kra­ti­sche Par­tei (DDP) und das katho­li­sche Zen­trum. Bei­spiel­haft für den Patrio­tis­mus des deut­schen Juden­tums war Wal­ter Rathen­au (DDP), der 1921 als Wie­der­auf­bau­mi­nis­ter im „Wies­ba­de­ner Abkom­men“ Repa­ra­ti­ons­er­leich­te­run­gen gegen­über Frank­reich durch­setz­te. 1922 wur­de Rathen­au in Ber­lin von rechts­ra­di­ka­len Repu­blik­fein­den ermordet.

Die Wirt­schafts­kri­sen der 20er Jah­re mach­ten auch den bis­lang wohl­ha­ben­den Wies­ba­de­ner Juden zu schaf­fen. Für ihre ver­arm­ten Mit­glie­der rich­te­te die Gemein­de 1922 eine „Mit­tel­stands­kü­che“ ein, 1924 folg­te ddie Ein­rich­tung eines „Israe­li­ti­schen Alters­heims“ in der Geis­berg­stra­ße 24. Eine „Wohl­fahrts­zen­tra­le“ nach dem Vor­bild der Inne­ren Mis­si­on bestand schon seit 1917. Ein Ver­ein für jüdi­sche Feri­en­ko­lo­nien ermög­lich­te Kin­dern mit­tel­lo­ser Eltern Erho­lungs­auf­ent­hal­te auf dem Lande.

Die dunk­le Novem­ber­nacht 1938: Eine Tra­gö­die in fünf Akten

Die Tra­gö­die vom 10. Novem­ber 1938, in der SA- und Par­­tei-Trupps die Syn­ago­ge am Michels­berg zer­stö­ren, lässt sich in der Rück­schau in fünf Akte gliedern.

Ers­ter Akt, am Abend des 9. Novem­ber: Reichs­pro­pa­gan­da­mi­nis­ter Joseph Goeb­bels nimmt den Angriff des Juden Her­schel Grün­span auf den Diplo­ma­ten Ernst vom Rath am 7. Novem­ber in Paris zum Anlass, Wei­sun­gen für eine „spon­ta­ne“ Reak­ti­on an die Par­tei­glie­de­run­gen zu geben. In Zivil geklei­de­te NSDAP- und SA-Män­ner dran­gen nachts in die Wies­ba­de­ner Syn­ago­ge ein. Sie war­fen die Tho­ra­rol­len in die Luft, zer­ris­sen Gebet­bü­cher, raub­ten, was ihnen irgend­wie wert­voll erschien, und zün­de­ten die Syn­ago­ge an.

Zwei­ter Akt: Gegen 4 Uhr am Mor­gen rück­te die Feu­er­wehr an und begann zu löschen, wahr­schein­lich auf­grund von Missverständnissen.

Drit­ter Akt: Gegen 6 Uhr erschien erneut ein NS-Kom­­man­­do, wie­der­um in Zivil, um Spon­ta­nei­tät vor­zu­täu­schen, in Wirk­lich­keit sind die Anwei­sun­gen aus Ber­lin gekom­men. Mit Brand­be­schleu­ni­gern wur­de die Syn­ago­ge erneut ange­zün­det. Dies­mal hat die Feu­er­wehr offen­bar kla­re Anwei­sun­gen von der Par­tei erhal­ten: Nur die benach­bar­ten Gebäu­de schüt­zen. Die Poli­zei schau­te taten­los zu. So schil­der­te Georg Buch (1903 1995), der spä­te­re SPD-Ober­­bür­­ger­­meis­­ter Wies­ba­dens, die Ereig­nis­se der Nacht.

Vier­ter Akt: Gegen 8 Uhr ver­sam­mel­te sich eine Men­schen­men­ge am Michels­berg. Eini­ge waren mit Äxten und Brech­stan­gen bewaff­net. Sie schlu­gen die Bän­ke ent­zwei und schich­te­ten sie zu einer Pyra­mi­de auf. Offen­bar brann­te ihnen die Syn­ago­ge nicht schnell genug ab. Die Holz­py­ra­mi­de über­gos­sen sie mit Ben­zin und zün­de­ten sie an. Das Gebäu­de brann­te nun lich­ter­loh. Auch auf das benach­bar­te Gemein­de­haus grif­fen die Flam­men über. Noch am Nach­mit­tag des 10. Novem­ber schwel­te der Brand. Pro­tes­tiert hat­te nie­mand, jeden­falls nicht öffent­lich. Betre­te­nes Schwei­gen herrsch­te nach Zeu­gen­aus­sa­gen unter den Pas­san­ten eben­so wie Fassungslosigkeit.

Fünf­ter Akt: Am Nach­mit­tag, gegen 14 Uhr, sack­te die Kup­pel in sich zusammen.

Ein Raub der Flam­men: die Syn­ago­ge am Mit­tag des 10. Novem­ber 1938.
(Abbil­dung: HHStAW Best. 3008,1,1, 3997)

In blin­dem Eifer: Der Mob wütet in den Geschäften

Wäh­rend die Syn­ago­ge brann­te, wur­den in der Innen­stadt die jüdi­schen Geschäf­te demo­liert. Unter vie­len ande­ren das Hut­ge­schäft Ull­mann, die Wein­hand­lung Simon und das Juwe­lier­ge­schäft Hei­mer­din­ger, dazu das Mode­ge­schäft für Kin­der­be­klei­dung Baum in der Weber­gas­se, die Par­fü­me­rie Albers­heim und das Schuh­ge­schäft Mesch. Die Fir­ma Sal­berg – Glas und Kris­tal­le – am Ein­gang der Lang­gas­se wur­de eben­falls über­fal­len. Eini­ge Häu­ser wei­ter schleu­der­ten die Ran­da­lie­rer aus einem Schuh­ge­schäft wahl­los Schu­he auf die Straße.

Die Ver­wüs­tun­gen voll­zo­gen sich stets nach dem glei­chen Mus­ter: Die Zer­stö­rungs­trupps schlu­gen Fens­ter­schei­ben und Türen ein, dann demo­lier­ten sie die Läden und war­fen die Ware auf die Stra­ße. „Deut­sche kau­fen nicht in jüdi­schen Geschäf­ten“, war auf den Papp­schil­dern zu lesen, die SA-Trupps an die Häu­ser häng­ten. In blin­dem Eifer schlu­gen sie die Fens­ter­schei­ben der jüdi­schen Geschäf­te ein. Von der Poli­zei sah man nichts.

Auch die Woh­nung und Kanz­lei des Rechts­an­walts Bert­hold Gut­h­mann wur­den ver­wüs­tet. „Die Leu­te war­fen die Akten zum Fens­ter hin­aus, zer­stör­ten das Mobi­li­ar und zer­schlu­gen Fens­ter­schei­ben“, hieß es in einer Ankla­ge­schrift beim Land­ge­richt Wies­ba­den von 1950. Gut­h­mann wur­de fest­ge­nom­men und ins Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Buchen­wald ver­schleppt, wo er sechs Wochen fest­ge­hal­ten und schwer miss­han­delt wur­de. Nach sei­ner Ent­las­sung kehr­te er nach Wies­ba­den zurück. Hier über­nahm er den Vor­sitz der Jüdi­schen „Ein­heits­ge­mein­de“ und ver­half vie­len Gemein­de­mit­glie­dern zur Emi­gra­ti­on. Er selbst blieb, bis er im Novem­ber 1942 nach Frank­furt zwangs­um­ge­mel­det wur­de, von wo aus er schließ­lich depor­tiert und 1944 in Ausch­witz ermor­det wur­de. Schon 1933 hat­te er sei­ne Zulas­sung als Anwalt ver­lo­ren. Im Ers­ten Welt­krieg war Bert­hold Gut­h­mann Flie­ger­leut­nant und mit dem Eiser­nen Kreuz aus­ge­zeich­net wor­den. Gele­gen­hei­ten, sich und sei­ne Fami­lie im Aus­land in Sicher­heit zu brin­gen, nahm Gut­h­mann nicht wahr. Als Vor­stand der Jüdi­schen Gemein­de und Ver­tre­ter der „Reichs­ver­ei­ni­gung der Juden in Deutsch­land“ blieb er bei sei­ner Gemein­de, deren Mit­glie­der er bis zur letz­ten gro­ße Depor­ta­ti­on 1942 nach Kräf­ten unter­stütz­te. Bei der Auf­lö­sung der Gemein­de und der „Reichs­ver­ei­ni­gung“ hat­te man Gut­h­mann gezwun­gen mit­zu­wir­ken. Er muss­te auch die Lis­ten für die Depor­ta­tio­nen zusammenstellen.

Im berühm­ten Geschäft für Damen­mo­den von Carl Bacha­rach (1869 1938) in der Weber­gas­se 2 - 4 war einst sogar Kai­ser Wil­helm II. Kun­de gewe­sen. Der Geschäfts­mann und sei­ne Frau Anna wur­den im März 1939 verhaftet.

Die Res­te der wäh­rend der Novem­ber­po­grom­me zerstörten Syn­ago­ge wer­den abgetragen.
(Abbil­dung: HHStAW Best. 3008,1,1,4000)

Carl Bacha­rach starb im Unter­su­chungs­ge­fäng­nis in der Albrecht­stra­ße. Bacharachs Haus in der Alex­and­ra­stra­ße 6 - 8 war eines von ins­ge­samt 42 „Juden­häu­sern“, in denen man von Kriegs­be­ginn an Wies­ba­dens jüdi­sche Bevöl­ke­rung iso­lier­te. 1943 wur­den die letz­ten Juden­häu­ser aufgelöst.

Mona­te­lang zeug­ten die Rui­nen der Syn­ago­ge am Michels­berg von der Schand­tat. Erst im Som­mer 1939 hat­te man sie end­gül­tig abge­ris­sen. 1950 wur­de schließ­lich auch ihr Sockel abge­tra­gen und die Coulin­stra­ße ver­brei­tert. Nun erin­ner­te nichts mehr an den ehe­ma­li­gen Stand­ort der Synagoge.

Letz­te Über­res­te ver­schwin­den: Abriss des Sockels der Syn­ago­ge am Michels­berg 1950.
(Abbil­dung: Wil­li Rudolph, © Richard Rudolph)

Die Trüm­mer der Vor­or­te: In Wies­ba­den wur­den fünf Syn­ago­gen geschändet

Fünf Syn­ago­gen haben die natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Zer­stö­rungs­trupps am 9./10. Novem­ber 1938 in Wies­ba­den geschän­det und rui­niert: zwei in der Innen­stadt (Michels­berg und Fried­rich­stra­ße) und die Syn­ago­gen in Bier­stadt (erbaut 1827), Schier­stein (1858) und Bie­brich (1860). Bei der Syn­ago­ge in der Fried­rich­stra­ße ver­zich­te­te man auf Brand­stif­tung, wahr­schein­lich des­halb, weil dort die Gefahr eines Über­grei­fens der Flam­men auf die Nach­bar­häu­ser bestand. Im klei­nen Bet­haus in der Blü­cher­stra­ße 6, in dem sich die ortho­do­xen Ost­ju­den aus dem Vier­tel ver­sam­mel­ten, wüte­ten die Natio­nal­so­zia­lis­ten zwar eben­falls, Feu­er wur­de dort wohl ver­mut­lich auch wegen der Enge der bau­li­chen Ver­hält­nis­se nicht gelegt. Die eben­falls 1938 demo­lier­te Syn­ago­ge in Bie­brich fiel im Krieg dann einem Bom­ben­an­griff zum Opfer. Die Rui­nen der Bier­stad­ter Syn­ago­ge wur­den 1971 abgerissen.

Stand so bis 1967: die Rui­ne der Syn­ago­ge in Schierstein.
(Abbil­dung: StadtA WI F000-3361)

In Ber­lin befoh­len: Ein orga­ni­sier­tes Staatsverbrechen

Für Reichs­pro­pa­gan­da­mi­nis­ter Joseph Goeb­bels war das Atten­tat auf Ernst vom Rath in Paris die will­kom­me­ne Gele­gen­heit, eine neue Stu­fe der Ver­fol­gung der deut­schen Juden ein­zu­läu­ten. Ohne die Brän­de der Syn­ago­gen über­haupt zu erwäh­nen, behaup­te­te das in Wies­ba­den erschei­nen­de Nas­sau­er Volks­blatt am Tag nach der Schand­tat: „Wer durch die Stra­ßen ging, der konn­te hören, wie tief der Ingrimm in den Men­schen saß über die­se ruch­lo­se und gemei­ne Tat des Juden­tums.“ Und wei­ter: „Wenn dann an eini­gen Stel­len Schä­den ent­stan­den, dann haben sich das die Juden selbst zuzu­schrei­ben.“ In ähn­li­chem Wort­laut äußer­te sich das Tag­blatt. Es ver­mied eben­falls Hin­wei­se auf die Zer­stö­run­gen und stell­te dro­hend fest, die „Schä­den“ sei­en „als Mah­nung anzu­se­hen, wie sie ein­dring­li­cher nicht aus­ge­spro­chen wer­den kann“.

1946 wur­den die Haupt­tä­ter der Pogrom­nacht in Wies­ba­den zwar vor Gericht gestellt, aber nur mil­de bestraft. Obwohl das Gesetz bei schwe­rer Brand­stif­tung eine Stra­fe von nicht unter zehn Jah­ren Gefäng­nis vor­sah, hat man nur Stra­fen zwi­schen zwei und fünf Jah­ren verhängt.

Schon lan­ge vor den Novem­ber­po­gro­men waren zwei Wies­ba­de­ner Juden von Natio­nal­so­zia­lis­ten ermor­det wor­den: Im April 1933 töte­ten sie den 39-jäh­ri­­gen Milch­händ­ler und SPD-Kas­sie­rer Max Kas­sel in der Weber­gas­se 46 und den 58-jäh­ri­­gen Kauf­mann Salo­mon Rosen­strauch in der Wil­helm­stra­ße 20. Wäh­rend Rosen­strauch infol­ge eines Über­falls einem Herz­schlag erlag, wur­de Kas­sel mit einer Pis­to­le erschos­sen. Zwar wur­den die Täter straf­recht­lich ver­folgt, jedoch sehr mil­de bestraft.

Im Früh­jahr 1938 muss­ten die Wies­ba­de­ner Juden ihr gesam­tes Ver­mö­gen anmel­den, im Okto­ber wur­den 300 pol­ni­sche Juden nach Polen abge­scho­ben. Sie wur­den nahe­zu alle Opfer des Holocausts.

Schlich­te Wür­de: das Inne­re der Syn­ago­ge Schierstein.
(Abbil­dung: StadtA WI F000-493)

Von der Brand­stif­tung zur Mas­sen­de­por­ta­ti­on: Der Start der Völkermordmaschinerie

Am 20. Janu­ar 1942 fand in Ber­lin die „Wann­see-Kon­fe­renz“ zur „End­lö­sung der Juden­fra­ge“ statt. Die deut­schen Juden, die spä­tes­tens seit den Nürn­ber­ger Geset­zen von 1935 recht­los waren, soll­ten nach Ost­eu­ro­pa depor­tiert und dort umge­bracht wer­den. Eine ers­te Ver­haf­tungs­wel­le hat­te schon im Okto­ber 1938 Wies­ba­de­ner Juden erfasst. Am 17. Okto­ber hielt Rab­bi­ner Paul Laza­rus sei­ne letz­te Pre­digt in der Syn­ago­ge am Michels­berg. Ahnungs­voll sag­te er: „Die­se Zeit hat uns gelehrt, Abschied zu neh­men.“ Laza­rus wur­de nach den Novem­ber­po­gro­men vor­über­ge­hend in ein Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger ver­schleppt. 1939 flüch­te­te er nach Niz­za und emi­grier­te von dort nach Paläs­ti­na. Ver­armt, starb er 1951 in Isra­el. Nach den Zer­stö­run­gen in der „Reichs­kris­tall­nacht“ durf­te die Israe­li­ti­sche Kul­tus­ge­mein­de ihre Got­tes­diens­te noch eine Wei­le in der Fried­rich­stra­ße abhal­ten. Paul Laza­rus’ 1.700 Bän­de umfas­sen­de Biblio­thek haben im Jahr 1999 sei­ne Töch­ter Eva und Han­na dem För­der­kreis Akti­ves Muse­um deutsch-jüdi­­scher Geschich­te in Wies­ba­den übergeben.

Die Mas­sen­de­por­ta­tio­nen aus Wies­ba­den began­nen am 9. Juni 1942. Danach leb­ten noch knapp 600 Juden in der Stadt. 1933 waren es noch ca. 2.800 gewe­sen. Eine Aus­rei­se war seit dem 1. Okto­ber 1942 nicht mehr mög­lich. Die letz­te gro­ße Depor­ta­ti­on fand am 1. Sep­tem­ber 1942 statt. Aus­ge­rech­net an einem Sams­tag, dem Schab­bath, am 29. August, muss­ten sich rund 370 Wies­ba­de­ner Juden im Hof der teil­wei­se zer­stör­ten Syn­ago­ge in der Fried­rich­stra­ße ein­fin­den. Nur einen klei­nen Kof­fer und höchs­tens 50 Reichs­mark durf­ten sie mit­neh­men. Ihr rest­li­ches Ver­mö­gen war beschlag­nahmt wor­den. In der Syn­ago­ge haben sie eine Nacht der Rat­lo­sig­keit und Ver­zweif­lung ver­brin­gen müs­sen. Ange­kün­digt war ihnen die „Gemein­schafts­un­ter­brin­gung außer­halb des Alt­reichs“ wor­den. Aber hat­te Hit­ler nicht schon 1939 von der „Ver­nich­tung der jüdi­schen Ras­se in Euro­pa“ gesprochen?

Von der Fried­rich­stra­ße aus zogen die vor­wie­gend älte­ren Jüdin­nen und Juden zu Fuß in Rich­tung Schlacht­hof, wo man sie an der Vieh­ver­la­de­ram­pe zusam­men­pferch­te und dann in die bereit­ste­hen­den Wag­gons der Reichs­bahn trieb. Wie Vieh hat man sie auf die Fahrt in den Tod geschickt. Über Frank­furt am Main nach The­re­si­en­stadt und von dort aus in die gro­ßen Mord­fa­bri­ken im Osten. Für die­sen Trans­port in den Tod muss­ten sie sogar noch bezah­len. Nicht vie­le Wies­ba­de­ner haben sich um die Ver­folg­ten bemüht. Bei­nah 100 der Wies­ba­de­ner Juden sind einer Ver­schlep­pung durch Selbst­mord zuvorgekommen.

Maka­bre Regis­trie­rung: Hof der Syn­ago­ge in der Fried­rich­stra­ße am 29. August 1942.
(Abbil­dung: StadtA WI, F.-Nr. 8666/99)

Abfahrt in die Mord­fa­brik: Ram­pe des Schlacht­hofs am 1. Sep­tem­ber 1942.
(Abbil­dung: StadtA WI, F.-Nr. 8666/122)

Doku­ment der Ver­zweif­lung: Abschieds­brief der Ehe­leu­te Spie­gel an die Fami­lie Prediger.
(StadtA WI NL 75 Nr. 1013)

Tran­skrip­ti­on des Abschiedsbriefes

Sonn­tag 2.11.40

Mei­ne lie­be Fami­lie Rektor! *

Mit die­sen weni­gen Zei­len neh­men mei­ne Frau und ich von Ihnen Abschied – für immer! Ich schrei­be Ihnen die­se Zei­len, denn in letz­ter Stun­de ist noch so Ver­schie­de­nes zu erle­di­gen, recht­zei­tig und im volls­ten Bewusst­sein und Ein­ver­ständ­nis mei­ner Frau. Ges­tern am 1. Novem­ber, erhielt mein Sohn von einem befreun­de­ten Pfar­rer aus Ett­lin­gen, wel­cher sich nach sei­nem Befin­den erkun­dig­te, mit­ge­teilt, dass alle dor­ti­gen Nicht­ari­er bin­nen weni­ger Stun­den ihr Heim hät­ten ver­las­sen müs­sen, um abtrans­por­tiert zu werden.

Wir glau­ben bestimmt, dass über kurz oder lang uns das glei­che Schick­sal errei­chen wird. Für uns alte mor­sche Men­schen ist eine so über­groß gräss­li­che Ver­ban­nung dem Tode gleich­zu­stel­len, drum zie­hen wir ein schnel­les Ende vor. Für alle Ihre Lie­be und Auf­merk­sam­kei­ten, die wir wäh­rend unse­res Zusam­men­woh­nens genos­sen haben, dan­ken wir Ihnen von gan­zem Her­zen. Möge Ihnen die Vor­se­hung stets nur im bes­ten Sin­ne geneigt sein. Im Geist drü­cke ich Ihnen allen von gan­zem Her­zen die Hand.

August Spie­gel und Ida Spiegel

*  Niko­laus Pre­di­ger war Rek­tor an Wies­ba­de­ner Schulen.

Ein Find­ling trägt ihre Namen: Die ver­ges­se­nen Kämpfer

Selbst ihre Teil­nah­me am Ers­ten Welt­krieg (1914 1918) hat die deut­schen Juden nicht vor den Gas­kam­mern bewahrt. Ins­ge­samt 57 jüdi­sche Sol­da­ten aus Wies­ba­den vie­le waren mit dem Eiser­nen Kreuz aus­ge­zeich­net wor­den lie­ßen in die­sem Krieg in den Schüt­zen­grä­ben der West- und an der Ost­front ihr Leben. Das war, gemes­sen an der Zahl von rund 2.000 jüdi­schen Wies­ba­de­nern um das Jahr 1914, sogar ein über­pro­por­tio­nal hoher Blut­zoll unter der Wies­ba­de­ner Bevöl­ke­rung. Eine Ehren­ta­fel an einem Find­ling auf dem Jüdi­schen Fried­hof an der Plat­ter Stra­ße erin­nert an die Gefallenen.

Am 22. Mai 1921 war die Ehren­ta­fel durch den Rab­bi­ner Paul Laza­rus fei­er­lich ent­hüllt wor­den. Auch er hat­te sich 1916 als Kriegs­frei­wil­li­ger und Feld­rab­bi­ner gemel­det und war in Maze­do­ni­en im Ein­satz. Als im August 1914 die Glo­cken der Wies­ba­de­ner Kir­chen läu­te­ten, bete­ten auch die Wies­ba­de­ner Juden in den Syn­ago­gen für den Sieg ihres Vater­lan­des. Noch Ende 1932 zähl­te die Wies­ba­de­ner Orts­grup­pe des Reichs­bun­des Jüdi­scher Front­sol­da­ten 105 Mit­glie­der. Nach der Macht­über­tra­gung an Hit­ler wur­den sie noch eine Zeit lang geschont, von 1936 an nahm man kei­ne Rück­sicht mehr auf sie. Ihnen wur­de jede poli­ti­sche Tätig­keit unter­sagt und 1938 erfolg­te die Auf­lö­sung des Reichsbundes.

An der Ehren­ta­fel auf dem jüdi­schen Fried­hof ste­hen Namen wie Karl Ham­bur­ger (1891 – 1915), Sig­mund Hel­fer (1877 – 1917) oder Theo­dor Abra­ham (1880 – 1918). Dass Wies­ba­de­ner Juden im Ers­ten Welt­krieg genau­so wie vie­le ande­re bereit waren, ihr Leben für ihr Vater­land zu opfern, ist im kol­lek­ti­ven Gedächt­nis kaum prä­sent. Außer der Erin­ne­rungs­ta­fel auf dem jüdi­schen Fried­hof erin­nert im Wies­ba­de­ner Stadt­bild nichts an ihr Schicksal.

Ehren­ta­fel der Gefal­le­nen 1914 — 1918
(Abbil­dung: Jüdi­sche Gemein­de Wies­ba­den. Foto­graf: Igor Eisenschtat)

Frei­wil­lig gemel­det: Feld­rab­bi­ner Dr. Paul Lazarus
(Abbil­dung: Samm­lung Lothar Bembenek)

Kein Par­don für Rechts­ge­lehr­te: Jüdi­sche Juristen

Bewe­gend und ergrei­fend sind auch die Schick­sa­le der jüdi­schen Juris­ten, die der Wies­ba­de­ner Jurist und Hei­mat­for­scher Dr. Rolf Faber auf­ge­ar­bei­tet hat und die in der Schrif­ten­rei­he des Stadt­ar­chivs erschie­nen sind. Meh­re­re Dut­zend jüdi­scher Rich­ter, Staats- und Rechts­an­wäl­te hat es wäh­rend der Wei­ma­rer Repu­blik in Wies­ba­den gege­ben. Dr. Wil­helm Drey­er (1882 1938), der hier stell­ver­tre­tend erwähnt sein soll, war Rich­ter am Ober­lan­des­ge­richt in Frank­furt am Main, wur­de 1933 an das Land­ge­richt Wies­ba­den abge­scho­ben und 1935 in den Ruhe­stand ver­setzt. Am 10. Novem­ber 1938 wur­de er nichts ahnend auf­ge­for­dert, sich im Poli­zei­prä­si­di­um an der Fried­rich­stra­ße zu mel­den. Dort hat man ihn ver­haf­tet, um ihn gemein­sam mit andern Wies­ba­de­ner Juden in das Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Buchen­wald zu ver­schlep­pen. Drey­er starb am 25. Novem­ber, nur zwei Wochen nach sei­ner Ein­lie­fe­rung. Er war einer von 26.000 jüdi­schen Män­nern, die im gesam­ten Reich den Wei­sun­gen des Chefs der Sicher­heits­po­li­zei Rein­hard Heyd­rich ent­spre­chend ver­haf­tet wurden.

Wil­helm Drey­er war nicht der ein­zi­ge Wies­ba­de­ner, des­sen Fami­lie Ende des 19. Jahr­hun­derts vom Juden­tum zum Pro­tes­tan­tis­mus über­ge­tre­ten war. Auch Drey­er war Sol­dat im Ers­ten Welt­krieg, im Rang eines Leut­nants. Aber weder der pro­tes­tan­ti­sche Glau­be noch die Kriegs­teil­nah­me schütz­te ihn vor sei­ner Ermor­dung. Sein „Ver­bre­chen“ war ein­zig und allein, dass er der „jüdi­schen Ras­se“ angehörte.

Die Ent­rech­tung der Juden nach der „Macht­er­grei­fung“ der Natio­nal­so­zia­lis­ten erfolg­te in meh­re­ren Stu­fen: Schon im April 1933 hat man mit dem „Gesetz zur Wie­der­her­stel­lung des Berufs­be­am­ten­tums“ die Grund­la­ge geschaf­fen, poli­tisch miss­lie­bi­ge und jüdi­sche Beam­te aus dem Staats­dienst zu ent­fer­nen. Nach den „Nürn­ber­ger Ras­se­ge­set­zen“ von 1935 durf­te kein Jude mehr ein öffent­li­ches Amt aus­üben, ihm war die Staats­bür­ger­schaft prak­tisch ent­zo­gen. Recht­spre­chung und Gewal­ten­tei­lung waren ohne­hin in Deutsch­land aus­ge­he­belt wor­den. Denn 1933 hat­te Hit­ler sich selbst zum „obers­ten Gerichts­herrn“ des deut­schen Vol­kes erklärt.

Demü­ti­gung und Aus­gren­zung erreich­ten 1941 eine neue Stu­fe: Von Sep­tem­ber an muss­ten alle Juden im Reich und in den besetz­ten Gebie­ten den „Juden­stern“ tra­gen. Der Stern Davids, der von 1869 an auf der Kup­pel der Wies­ba­de­ner Syn­ago­ge weit hin sicht­bar war, war zum Stig­ma gewor­den. Sei­ne Trä­ger waren recht- und würdelos.

Nach der Befrei­ung 1945: Der Stern Davids leuch­tet wie­der in der Stadt

Wäh­rend der Zeit des Natio­nal­so­zia­lis­mus wur­de an den euro­päi­schen Juden ein Ver­bre­chen in kaum vor­stell­ba­rer Dimen­si­on ver­übt, das nur sehr weni­ge Jüdin­nen und Juden überlebten.

Schon 1945 begann sich die Jüdi­sche Gemein­de in Wies­ba­den unter dem Schutz der Ame­ri­ka­ner neu zu bil­den. 1946 konn­te sie nach viel Eigen­ar­beit beim Wie­der­auf­bau die Syn­ago­ge in der Fried­rich­stra­ße wie­der weihen.

Initia­to­rin der Wie­der­grün­dung der Gemein­de war Clai­re Gut­h­mann, die Wit­we des Rechts­an­walts Bert­hold Gut­h­mann, der in Ausch­witz ermor­det wor­den war. Sie und ihre Toch­ter Char­lot­te hat­ten als ein­zi­ge ihrer Fami­lie das Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger The­re­si­en­stadt über­lebt. Clai­re Gut­h­mann war als „Dis­pla­ced Per­son“ nach Deutsch­land zurück­ge­kehrt und leb­te zunächst in einem Lager, bekam aber schon bald ein Zim­mer in Wies­ba­den zuge­teilt. Am 21. Juli 1945 infor­mier­te die städ­ti­sche „Betreu­ungs­stel­le für poli­tisch, ras­sisch und reli­gi­ös Ver­folg­te“ die US-Mili­­tär­­re­­gie­rung über die Wie­der­grün­dung einer Jüdi­schen Gemein­de. Clai­re Gut­h­mann war ihre ers­te Spre­che­rin und küm­mer­te sich vom frü­he­ren jüdi­schen Alters­heim in der Geis­berg­stra­ße 24 aus um die Betreu­ung der Mit­glie­der. 1946 wur­de Dr. Leon Frim aus Lem­berg Vor­sit­zen­der der Gemein­de. Frim hat­te die Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Ausch­witz und Buchen­wald über­lebt. Zu den Mit­be­grün­dern der Jüdi­schen Gemein­de gehör­te auch Jakob Matzner.

Am Lich­ter­fest Cha­nuk­ka, dem 22. Dezem­ber 1946, wur­de die Syn­ago­ge in einem fei­er­li­chen Akt neu ein­ge­weiht. Für die US-Mili­tär­re­gie­rung sprach Colo­nel James R. New­man, der Mann, der 1945 Wies­ba­den als Lan­des­haupt­stadt des neu­en Lan­des Hes­sen pro­kla­miert hat­te. Für die Stadt nahm Ober­bür­ger­meis­ter Hans Redl­ham­mer (CDU) teil. Der ame­ri­ka­ni­sche Mili­­tär-Rab­­bi­­ner Wil­liam Dalin ent­zün­de­te die Lich­ter des Cha­nuk­­ka-Leuch­­ters. Die ein­zi­ge bei der Schän­dung im Novem­ber 1938 geret­te­te Tho­ra­rol­le kehr­te an die­sem Tag aus ihrem „Exil“ in der Schweiz nach Wies­ba­den zurück. Mit Cha­im Hecht besaß die Gemein­de jetzt wie­der einen eige­nen Rabbiner.

Ein Wie­der­auf­bau der alten oder der Bau einer neu­en Syn­ago­ge am Michels­berg war zunächst  ins Auge gefasst, dann aber fal­len gelas­sen worden.

Unter dem Schutz der Ame­ri­ka­ner: Ein­wei­hung der Syn­ago­ge Fried­rich­stra­ße 1946.
Jakob Matz­ner trägt die Tora-Rol­­le in die Synagoge.
(Abbil­dung: Jüdi­sche Gemein­de Wiesbaden)

In den 1960er Jah­ren ent­sprach die Syn­ago­ge in der Fried­rich­stra­ße nicht mehr den Bedürf­nis­sen der Gemein­de, die sich nun zum Bau einer neu­en ent­schloss. 1965 konn­te der Grund­stein gelegt wer­den, 1966 wur­de die Syn­ago­ge ein­ge­weiht. Bei ihrer Wei­he war der Lan­des­rab­bi­ner Dr. Isaak Emil Lich­tig­feld zuge­gen. Für das Land Hes­sen sprach Minis­ter­prä­si­dent Georg August Zinn (SPD), für die Stadt Wies­ba­den gra­tu­lier­te Ober­bür­ger­meis­ter Georg Buch (SPD) der Gemein­de. Buch war einst selbst Häft­ling der Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Hin­zert und Sach­sen­hau­sen gewesen.

Das moder­ne Gebäu­de der Archi­tek­ten Hel­mut Joos und Ignaz Jako­by ist geprägt von den Fens­tern des Wies­ba­de­ner Bild­hau­ers und Glas­ge­stal­ters Egon Alt­dorf. Blau-, Rubin­rot- und Gold­gelb-Töne domi­nie­ren. Nur der Bren­nen­de Dorn­busch leuch­tet in Grün. Die Far­ben ändern sich den Tag über je nach Licht­ein­wir­kung. Die Vio­lett-Töne, die bei Ein­bruch der Däm­me­rung erschei­nen, ver­schwin­den wie­der am nächs­ten Tag.

Mehr über die Nach­r­kriegs­ge­schich­te der Jüdi­schen Gemein­de Wies­ba­den fin­den Sie in der Online-Aus­­s­tel­­lung „Jüdi­sches Wies­ba­den: Zwi­schen Neu­be­ginn, Zuver­sicht und ‚Tar­but – Zeit für jüdi­sche Kul­tur‘“.

1966: Fest­akt mit Lan­des­rab­bi­ner Dr. Isaak Emil Lichtigfeld.
(Abbil­dung: Jüdi­sche Gemein­de Wiesbaden)

Jüdi­sche Gemein­de im Wan­del: Zuwan­de­run­gen aus der ehe­ma­li­gen Sowjetunion

Anfang der 1990er Jah­re nahm die Zahl der Gemein­de­mit­glie­der sprung­haft zu, als Emi­gran­ten aus der frü­he­ren Sowjet­uni­on zuzo­gen. Dadurch gewann das Gemein­de­le­ben eine neue Dyna­mik. Die zuvor etwas über­al­ter­te Gemein­de erfreu­te sich wie­der vie­ler Kin­der. Die Inte­gra­ti­on der Rus­sisch­spra­chi­gen berei­tet der Gemein­de zwar viel Arbeit, aber das Wies­ba­de­ner Enga­ge­ment gilt, nicht zuletzt dank der Unter­stüt­zung der Zen­tra­len Wohl­fahrts­stel­le der Juden in Deutsch­land mit Sitz in Frank­furt, als vor­bild­lich in der gan­zen Repu­blik. Und, sagt Jacob Gut­mark mit Blick auf die neu­en „Juden aus dem Osten“ im Ver­gleich mit der Zer­ris­sen­heit der deut­schen und Ost­ju­den in den 1920er Jah­ren: „Dies­mal dür­fen wir nicht ver­sa­gen, sonst gibt es bald kei­ne jüdi­schen Gemein­den mehr.“

Im Jahr 2023 zählt die Jüdi­sche Gemein­de Wies­ba­den an die 850 Mit­glie­der. Damit ist sie nach Kas­sel und Offen­bach eine der am stärks­ten gewach­se­nen Gemein­den in Hes­sen. Aber deut­sche Juden gibt es kaum noch. Der über­wie­gen­de Teil besteht aus Migran­ten. Nicht weni­ge von ihnen haben Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger in meh­re­ren Län­dern durchlitten.

Den in einem athe­is­ti­schen Staat Auf­ge­wach­se­nen jüdi­sche Inhal­te und Wer­te zu ver­mit­teln, gehört seit­her zu den vor­nehms­ten Auf­ga­ben der Gemein­de. Zwei Drit­tel ihrer Mit­glie­der kom­men heu­te aus Län­dern der frü­he­ren Sowjetunion.

Eine Sozi­al­ar­bei­te­rin und eine Inte­gra­ti­ons­as­sis­ten­tin küm­mern sich nicht nur um sie, son­dern noch um weit über zwei­tau­send Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge, die nicht Mit­glie­der der Jüdi­schen Gemein­de sind.

Ihre Hei­mat liegt zwi­schen dem Fin­ni­schen Meer­bu­sen und dem Schwar­zen Meer, die sie in Rich­tung Deutsch­land ver­las­sen haben. Vie­le sind Ärz­te, Künst­ler, Inge­nieu­re. Man­che spra­chen bei ihrer Ankunft kein Wort Deutsch, man­che nur ein paar Bro­cken Jid­disch. Aber war­um emi­grie­ren sie nun aus­ge­rech­net nach Deutsch­land? Dr. Jacob Gut­mark bekommt die Fra­ge oft gestellt. Sei­ne Ant­wort: „Seit dem Krieg hat sich her­um­ge­spro­chen, dass man in Deutsch­land nicht mehr ver­folgt wird und dass man hier Erfolg haben kann.“ In Russ­land hin­ge­gen sei die Situa­ti­on für Juden heu­te teil­wei­se noch immer recht schwierig.

Fei­er­li­cher Ritus: die Ein­brin­gung der Tho­ra­rol­len bei der Ein­wei­hung 1966.
(Abbil­dung: Jüdi­sche Gemein­de Wiesbaden)

Auf­merk­sa­me Fest­gäs­te: Unter ihnen Ober­bür­ger­meis­ter Georg Buch — 4. von rechts vorne.
(Abbil­dung: Jüdi­sche Gemein­de Wiesbaden)

Mit Lern­zir­kel und Kul­tur­club: Leben­di­ges Gemeindeleben

Im Gemein­de­zen­trum in der Fried­rich­stra­ße herrscht ein reges Gemein­de­le­ben. Man bil­det sich in reli­giö­sen The­men wei­ter, lernt Deutsch und Hebrä­isch, zum Teil in Tan­dem-Kur­sen. Man übt sich in Gym­nas­tik und Selbst­ver­tei­di­gung, spielt Schach, Tisch­ten­nis und Bas­ket­ball im TuS Mak­ka­bi Wies­ba­den. Staat­lich aner­kann­ter Reli­gi­ons­un­ter­richt wird von der ers­ten Grund­schul­klas­se bis zum Abitur erteilt. Zum Ler­nen trifft man sich im Gemein­de­zen­trum, im Tom- Salus-Lern­­zir­kel und im Kul­tur­club. Schwim­men für Senio­rin­nen gibt es, auch einen „Treff­punkt“ für Holo­caust-Über­le­ben­de. Über hun­dert Ehren­amt­li­che wir­ken aktiv am Gemein­de­le­ben mit. Ani­ta Lip­pert, geb. Fried, Jahr­gang 1931, ist das letz­te Wies­ba­de­ner Gemein­de­mit­glied, das die jüdi­sche Schu­le in der Main­zer Stra­ße besucht hat­te und spä­ter von der Schlacht­hof­ram­pe aus in Rich­tung The­re­si­en­stadt abtrans­por­tiert wurde.

Regel­mä­ßig erscheint das „Mit­tei­lungs­blatt“ der Gemein­de - auf Deutsch und zum Teil auf Rus­sisch - mit Bei­trä­gen aller Art. Zu den wich­ti­gen Riten gehört der Got­tes­dienst am Schab­bath, dem sieb­ten Tag, an dem Gott nach der Erschaf­fung der Welt geruht hat. Dem Got­tes­dienst folgt ein gemein­sa­mes, fest­li­ches Essen. Aber auch alle ande­ren jüdi­schen Fei­er­ta­ge wer­den hier begangen.

Die Wies­ba­de­ner Syn­ago­ge besu­chen auch christ­li­che Gemein­den, um sich zu infor­mie­ren, vor allem Schul­klas­sen. Über 80 Besu­cher­grup­pen sind es im Jahr. Die Jüdi­sche Gemein­de ver­steht sich als Ein­heits­ge­mein­de und recht­li­che wie mora­li­sche Nach­fol­ge­rin der Vor­kriegs­ge­mein­schaft. Ihre Got­tes­diens­te fei­ert sie nach ortho­do­xem Ritus. An ihm kön­nen sich auch die „Libe­ra­len“ betei­li­gen. Umge­kehrt jedoch wür­den Ortho­do­xe nie an einem libe­ra­len Got­tes­dienst teilnehmen.

Ehe­ma­li­ge Wies­ba­de­ner Juden und ihre Nach­kom­men leben heu­te über alle Kon­ti­nen­te ver­streut. Seit den 1970er Jah­ren wer­den sie regel­mä­ßig von der Lan­des­haupt­stadt Wies­ba­den zu Besu­chen ein­ge­la­den. Mit zahl­rei­chen Wies­ba­de­ner Jüdin­nen und Juden sowie ihren Fami­li­en, die im Aus­land leben. pflegt auch das Akti­ve Muse­um Spie­gel­gas­se für deutsch-jüdi­­sche Geschich­te in Wies­ba­den (AMS) inten­si­ve Kon­tak­te, nicht zuletzt, um deren Bio­gra­fien, vor allem aber die der einst Ermor­de­ten zu erforschen.

Lan­ge Zeit, über ein Vier­tel­jahr­hun­dert, hat Kan­tor Avigdor Zuker das Leben der Gemein­de geprägt. Er hat zuletzt auch an der Hoch­schu­le für Jüdi­sche Stu­di­en in Hei­del­berg gelehrt. Ab dem Jahr 2000 war Avra­ham Zeev Nuss­baum Kan­tor, ab 2004, nach­dem er sich in Jeru­sa­lem hat wei­ter­bil­den las­sen, Kan­tor und Rab­bi­ner der Gemein­de. Seit Anfang der 1980er Jah­re ist Dr. Jacob Gut­mark, Jahr­gang 1938, Mit­glied des vier­köp­fi­gen Vor­stands. Er ver­leiht der Gemein­de in der Stadt ein Gesicht und gibt ihr Gewicht. Gut­mark küm­mert sich sowohl um die inter­nen Belan­ge, um Kul­tur und Reli­gi­on, aber auch um die reprä­sen­ta­ti­ve und inhalt­li­che Ver­tre­tung der Gemein­deinter­es­sen. Seit 2007 besteht ein Stadt­ver­trag zwi­schen der Lan­des­haupt­stadt und der Jüdi­schen Gemeinde.

Kon­zert im Rah­men der Ver­an­stal­tungs­rei­he „Tar­but — Zeit für jüdische Kul­tur“ im Kulturforum.
(Abbil­dung: Jüdische Gemein­de Wies­ba­den. Foto­graf: Igor Eisenschtat)

Die Wies­ba­de­ner Synagoge
(Abbil­dung: Jüdische Gemein­de Wies­ba­den. Foto­graf: Igor Eisenschtat)

Die Gemein­de ist heu­te im Stadt­le­ben auf viel­fa­che Wei­se prä­sent. Seit 2008 orga­ni­siert sie die Ver­an­stal­tungs­rei­he „Tar­but — Zeit für jüdi­sche Kul­tur“ mit einem brei­ten Ange­bot, vom Auf­tritt eines israe­li­schen Jugend­blas­or­ches­ters aus Wies­ba­dens Part­ner­stadt Kfar Saba in Isra­el über israe­li­sche Fil­me im Cali­ga­ri, lite­ra­ri­sche Lesun­gen in der Vil­la Cle­men­ti­ne bis hin zur Aus­stel­lung zu ver­schie­de­nen The­men im Rathaus.

Für ihre Ver­an­stal­tungs­rei­he wur­de die Jüdi­sche Gemein­de Wies­ba­den 2020 mit dem „Preis zur För­de­rung des kul­tu­rel­len Lebens“, dem Kul­tur­preis, der Lan­des­haupt­stadt Wies­ba­den ausgezeichnet.

2013 wur­de zudem das Jüdi­sche Lehr­haus neu gegrün­det. Es bie­tet Ver­an­stal­tun­gen zu unter­schied­li­chen Aspek­ten jüdi­scher Kul­tur und Iden­ti­tät, ver­mit­telt jüdi­sches Wis­sen und greift his­to­ri­sche The­men auf.

Die Sat­zung der Jüdi­schen Gemein­de legt fest, dass Kin­der und Jugend­li­che reli­gi­ös und kul­tu­rell und „in der Lie­be zum jüdi­schen Volk“ zu erzie­hen sind.

Seit 2006 ist Ste­ve Land­au als Geschäfts­füh­rer für das ope­ra­ti­ve Geschäft der Gemein­de zustän­dig. Er ist auch Lei­ter des Jüdi­schen Lehrhauses.

Eröffnung der Ver­an­stal­tungs­rei­he „Tar­but — Zeit für jüdische Kul­tur“ im Jahr 2019 im Gro­ßen Fest­saal des Wies­ba­de­ner Rathauses.
(Abbil­dung: Jüdi­sche Gemein­de Wies­ba­den. Foto­graf: Igor Eisenschtat)