Meine Erinnerung an die Ursprünge des Namentlichen Gedenkens am Michelsberg reicht bis in die Mitte der 1980er Jahre zurück. Das Vorhaben, an die Shoah zu erinnern, stand von Anfang an unter dem Eindruck einer historischen Besonderheit in den Beziehungen zwischen der Stadt und ihren jüdischen Bürgerinnen und Bürgern. Sie war inspiriert von dem beiderseitigen Wunsch, die Freundschaft zwischen der Landeshauptstadt Wiesbaden und ihrer Jüdischen Gemeinde zu fördern und zu festigen. Ergebniskonform und ein wenig stolz auf das Erreichte blicke ich also zurück auf einen langen Prozess des Nachdenkens, Diskutierens und Argumentierens, der für mich am 9. November 1984 begann: Es war ein kalter Nachmittag und eine nicht sonderlich würdige Gedenkstunde am Michelsberg. Der Straßenlärm verhinderte jeden Vortragsversuch. Im Anschluss an die Veranstaltung sprachen wir, d.h. der damalige Oberbürgermeister Dr. Hans-Joachim Jentsch und ich, über die Möglichkeit, die Namen der Wiesbadener Opfer der Shoah der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, womöglich sogar an diesem Ort. Einige Wochen zuvor hatte Dr. Jentsch ein eigens angefertigtes Memorbuch nach Yad Vashem in Jerusalem gebracht.
In der Folgezeit wurde das Vorhaben mal mehr, mal weniger vorangetrieben, und zwar immer unter Einbeziehung und Beteiligung der Jüdischen Gemeinde. Auf Anregung des damaligen Stadtrates Jörg Bourgett haben wir, meine Frau Daniela und ich, einige Zeit später das große Buch mit den bisher bekannten Namen der während der Shoah ermordeten Wiesbadener Jüdinnen und Juden in Yad Vashem zweimal abgelichtet und die Kopien mitgebracht.
Der Gedanke vom Michelsberg als Gedenkort blieb. Oberbürgermeister Achim Exner beispielsweise erwog in seiner Amtszeit sogar den Wiederaufbau der Synagoge am Ort. Die Jüdische Gemeinde stand dem Vorhaben kritisch gegenüber und wies darauf hin, dass sich zwar ein zerstörtes durch ein neues Prachtgebäude ersetzen lasse, die jüdischen Menschen, die damals ermordet wurden, jedoch nicht. Die Schaffung eines Namentlichen Gedenkens schien uns der passendere Weg.
Lothar Bembenek, 1988 Gründungsmitglied des Aktiven Museums Spiegelgasse, beschäftigte sich schon damals intensiv mit der Geschichte der Juden in Wiesbaden. Im November 1988 erhielt ich von ihm eine erweiterte Namenliste jüdischer NS-Opfer aus unserer Stadt.
2000/2001 wurde das Thema „Namentliches Gedenken am Michelsberg” im Zusammenhang mit dem bevorstehenden Abriss der dortigen Hochbrücke wieder aufgegriffen. Die damalige Kulturdezernentin Rita Thies lud die Jüdische Gemeinde zum Gespräch ein. Auch die damalige Vorsitzende des Aktiven Museums Spiegelgasse Dorothee Lottmann-Kaeseler war anwesend.
Erste Ideen wurden entwickelt, die vor allem ausgehend von den Vorstellungen der anwesenden Vertreter der Jüdischen Gemeinde durchaus schon Ähnlichkeit mit der 2011 realisierten Gedenkstätte hatten.
2006 wurde dann der Bau der neuen Gedenkstätte am Standort der Synagoge am Michelsberg auf den Weg gebracht. Seitdem trieb die damalige Stadtverordnetenvorsteherin Angelika Thiels, seligen Angedenkens, an der Spitze einer Arbeitsgruppe das Projekt energisch voran. Sie wie auch Dietrich Schwarz, damaliger Geschäftsführer der Stadtentwicklungsgesellschaft (SEG) als tatkräftiger Manager des sensiblen Vorhabens, erwarben sich bleibende Verdienste.
In all dieser Zeit hatte ich Gelegenheit, Menschen aus dem Magistrat, der Stadtverordnetenversammlung, den Parteien, aus der Verwaltung, insbesondere dem Stadtarchiv, sowie viele andere engagierte Bürgerinnen und Bürger näher kennenzulernen und wertzuschätzen. Dafür bin ich dankbar, dies umso mehr, als mit dem Vorhaben, einen Gedenkort am Michelsberg zu schaffen, überwiegend mit Bedacht umgegangen wurde.
Ideell und architektonisch konnte die Gedenkstätte erfolgreich hergestellt werden. Mit dem Namentlichen Gedenken am Michelsberg wird insoweit das Verlorengegangene wieder erkennbar.
Die Namen der ermordeten Jüdinnen und Juden bleiben gegenüber den rhetorischen Bekenntnissen in Vergangenheit und Gegenwart die sichtbaren und somit überlegenen historischen Belege.
Mit vollem Recht verstehen wir, die Angehörigen unserer Jüdischen Gemeinde, uns in die Pflicht genommen, Bewahrer der überlieferten Identität des deutschen Judentums und gleichzeitig Bürger unserer Stadt und dieses Staates zu sein.
Die Geschichte der Juden in Wiesbaden geht lebendig, traditionsreich und innovativ weiter.
Dr. Jacob Gutmark
Mitglied des Vorstandes der Jüdischen Gemeinde Wiesbaden