Gedenkstätte für die ermordeten Wiesbadener Juden
(Fotograf: [FranzXaver] Süß)
Die Lage der Synagoge: Entwässerungsplan für das Grundstück der Synagoge aus dem Jahr 1889.
(Abbildung: StadtA WI WI/2 Nr. 4902)
Der Weg zur Gedenkstätte
Dort, wo sich heute am Michelsberg die Gedenkstätte für die ermordeten Wiesbadener Juden befindet, stand seit 1869 die neue Synagoge, ein prächtiger Bau des Architekten Philipp Hoffmann im byzantinischen Stil. In der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 fiel sie der Brandstiftung und vollständigen Zerstörung anheim. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war nichts mehr von ihr übrig geblieben. Nur eine Stele aus dem Jahr 1953 erinnerte noch an ihren alten Standort. Die Coulinstraße führte schon in den 50er Jahren mitten durch den alten Grundriss der zerstörten Synagoge.
Anfang der 70er Jahre schien die Synagoge in Vergessenheit geraten zu sein, als die Stadt Wiesbaden – dem Zeitgeist der autogerechten Stadt folgend – für den Autoverkehr eine Hochbrücke von der benachbarten Schwalbacher Straße hin zur Coulinstraße bauen ließ, die quer über das ehemalige Synagogengrundstück führte. Erst als sich 30 Jahre später die Einstellungen zur Stadtplanung gewandelt hatten und die Hochbrücke infolge dessen wieder abgerissen wurde, war der Weg frei gegeben, sich mit der Neugestaltung des Synagogenplatzes am Michelsberg zu befassen.
Der jüdischen Opfer des Holocaust aus Wiesbaden am Standort der ehemaligen Synagoge namentlich zu gedenken, war seit langem ein besonderes Anliegen des Vereins Aktives Museum deutsch-jüdischer Geschichte gewesen. Im Jahre 2003 hatte der Verein damit begonnen, in einer Vitrine am Michelsberg „Erinnerungsblätter“ mit den Biografien ermordeter jüdischer Bürgerinnen und Bürger zu präsentieren.
Form kollektiver Erinnerung gesucht: Der Architekturwettbewerb
Die verschiedenen Initiativen zur Errichtung einer Gedenkstätte am Michelsberg – in besonderer Weise gefördert durch die damalige Stadtverordnetenvorsteherin Angelika Thiels (1941 – 2009) – mündeten im Juni 2005 schließlich in einen Beschluss der Wiesbadener Stadtverordnetenversammlung, „für das namentliche Gedenken an die vom NS-Regime ermordeten Wiesbadener Juden“ einen städtebaulichen Ideenwettbewerb für den Bereich der ehemaligen Synagoge auszuschreiben. Die Aufgabe der eingeladenen Architekturbüros bestand darin, Vorschläge für eine Neugestaltung des Bereichs um die ehemalige Synagoge einzureichen. Die Verkehrsfunktion der viel befahrenen Coulinstraße, die heute den früheren Standort der alten Synagoge durchschneidet, sollte aufrecht erhalten bleiben. Aus diesem Architekturwettbewerb ging die Landschaftsarchitektin Barbara Willecke aus Berlin mit ihrem Büro planung freiraum als Siegerin hervor. Ihr Entwurf für den Bau der 2011 fertig gestellten Gedenkstätte sollte realisiert werden.
Noch war eine Vielzahl von Planungsfragen zu klären, wie besonders die konstruktive Verankerung der sieben Meter hohen Stahlbetonwände im Hang zum Schulberg und die Verwendung eines widerstandsfähigen Natursteinmaterials im Bereich der Fahrbahn der Coulinstraße. Im April 2010 konnten die Bauarbeiten schließlich beginnen. Die feierliche Grundsteinlegung fand am 21. Mai 2010 statt. Am 27. Januar 2011, dem nationalen Gedenktag für die Opfer des NS-Regimes, wurde die Gedenkstätte der Wiesbadener Öffentlichkeit nach Baufertigstellung feierlich übergeben.
Mit Gedenkraum und Namenband: Der Bau in seinen Details
Das Namenband mit Nennung der jüdischen Opfer des Holocaust aus Wiesbaden stellt den zentralen Bestandteil des Denkmals dar. Weitere Hauptelemente sind die Wandscheiben, die den Gesamtraum der Gedenkstätte in der Stadt aufzeigen und die Markierung von Grundriss und Sockel der zerstörten Synagoge. Der westliche Wandabschnitt wird durch eine etwa 80 Zentimeter breite Glasscheibe geteilt, in die der rekonstruierte Innenraum der Synagoge eingraviert ist, eine Arbeit des Wiesbadener Künstlers Nabo Gaß nach einem Entwurf von Heinrich Lessing.
Auf der Innenseite der Wandscheiben ist auf Augenhöhe ein etwa 1,20 Meter hohes Band eingelassen, das die bis 2011 bekannten Namen der 1507 jüdischen Opfer trägt, in alphabetischer Reihenfolge nach Familiennamen geordnet. Der Name eines jeden Opfers wird auf einer eigenen Natursteinplatte mit Vornamen, Familiennamen, Geburtsname bei verheirateten Frauen, Geburts- und Sterbejahr sowie dem Sterbeort genannt.
Die Buchstaben sind mit einer Erhabenheit von etwa fünf Millimetern gefertigt, um sie auch haptisch „begreifen“ zu können. Die fünf Zentimeter hohen und 50 bis 120 Zentimeter langen Natursteinplatten aus vietnamesischem Basalt sind in Farbe und Material dem der Wandscheiben ähnlich, unterscheiden sich aber durch eine feinere Oberflächentextur. Um weitere Namen, die womöglich später noch recherchiert werden, integrieren zu können, werden Leersteine hinzugefügt. Das Band ist in die Wand vertieft eingelegt. Auf der so entstandenen Kante der Vertiefung können „Steine der Erinnerung“ gelegt werden. Mit Einbruch der Dunkelheit wird das Namenband beleuchtet.
Auf den Außenlinien des Sockels der Synagoge stehen sieben Meter hohe Wandscheiben, die auf einer Gesamtlänge von 62 Metern den „Leerraum“ sowie den Standort der zerstörten Synagoge markieren. Die schmalen, gemauerten Natursteinbänder bestehen aus armenischer Basaltlava.
Die gesamte Fläche des Gedenkortes ist in grauem Plattenbelag aus chinesischem Basalt angelegt. Um den Ort als Gesamteinheit zu begreifen, ist das Material des Belags farblich den Wandscheiben angepasst. Auf dem Boden des Gedenkraumes sowie auf der Fahrbahn wird die Grundfläche der Synagoge nachgebildet. Hierfür wird eine zum umgebenden Plattenbelag kontrastierende Steinoberfläche verwendet. Die Oberkante des Sockels der ehemaligen Synagoge wird auf den Wandscheiben durch eine hervortretende Natursteinschicht nachgebildet. Diese Markierung vermittelt einen Eindruck von der Größe der ehemaligen Synagoge und rhythmisiert zugleich die Wandflächen.
Der neue Stadtraum: Kontrapunkt zur Geschichtslosigkeit
Der aufgespannte Innenraum der Gedenkstätte gliedert sich funktional in den begehbaren Gedenkraum im eingeschnittenen Hang und den angrenzenden Bereich mit der die Anlage durchquerenden Coulinstaße.
Der Platz am Michelsberg bildet das Gegenüber des Gedenkortes und fügt sich harmonisch ins Bild der angrenzenden Fußgängerzone ein. Hier ist eine Informationstafel mit integriertem Touchscreen-Monitor angebracht, die Auskunft über das Denkmal und die ehemalige Synagoge gibt. Besucher können dort zudem die „Erinnerungsblätter“ des Aktiven Museums Spiegelgasse abrufen, die über das Schicksal einzelner jüdischer Opfer Wiesbadens informieren.
In den Bau der Gedenkstätte am Standort der ehemaligen Synagoge wird gleichzeitig die Neugestaltung des Michelsbergs als Fußgängerbereich mit Aufenthaltsqualität einbezogen. Auf diese Weise entsteht ein völlig neu gestalteter Stadtraum, der am Eingang zum alten Stadtzentrum von Wiesbaden an vergangene Baustrukturen erinnert. Mit der Realisierung des Konzepts setzt die Stadt Wiesbaden bewusst einen Kontrapunkt zur gesichtslosen Geschichtslosigkeit, in der die vor Jahren abgerissene Hochbrücke diesen Teil der Stadt früher durchschnitten hatte.