Hauptquellen im Bundesarchiv: Die Initiative kam von Yad Vashem
Im September 2001 wurde das Stadtarchiv auf der Grundlage der bisher bereits vorliegenden umfangreichen Daten mit einer nunmehr systematischen Erhebung der Namen der aus Wiesbaden deportierten und ermordeten Juden beauftragt. Mit dieser Aufgabe wurde der Diplom-Archivar (FH) Gerhard Klaiber betraut. Damit konnten in den vergangenen Jahren die Recherchearbeiten, die in ihrem Ursprung bis in die Nachkriegszeit zurückreichen und von Institutionen, Einzelpersönlichkeiten und Vereinen vorangetrieben worden waren, zu einem gewissen Abschluss gebracht werden. Die Ergebnisse der Auswertung unterschiedlicher Quellengruppen und Vorarbeiten wurden im Zuge dieser Arbeiten im Stadtarchiv erstmals in einer Access-Datenbank zusammengeführt und durch eigene Recherchen, insbesondere auch in früher für die Benutzung gesperrten Archivalien, ergänzt. Die Ermittlung der in Frage kommenden Daten wurden vor allem dadurch erschwert, dass die wichtigste Quelle für derartige personenbezogene Forschungen, nämlich die Wiesbadener Einwohnermeldekartei, 1945 bei einem Bombentreffer auf das Polizeipräsidium vernichtet worden war.
Die Hauptquelle für das Projekt bildete das in erster Auflage 1984, in zweiter Auflage 2006 vom Bundesarchiv herausgegebene „Gedenkbuch. Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft 1933 – 1945“. Das Bundesarchiv hatte auf Initiative der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem 1960 vom Bundesminister des Innern den Auftrag erhalten, gemeinsam mit dem in Bad Arolsen ansässigen Internationalen Suchdienst (ISD — heute Arolsen Archives) Quellen zur Geschichte der jüdischen Bevölkerung in Deutschland zusammenzustellen, die für die Erarbeitung eines Gedenkbuches genutzt werden sollten.
Damals war der Zugriff auf umfangreiche Überlieferungen aus den Konzentrationslagern und Haftstätten des NS-Regimes noch möglich, die im ISD verwahrt wurden. Später wurden diese Bestände für jede Form der wissenschaftlichen Benutzung gesperrt und erst 2009 erneut zugänglich gemacht. Nicht einbezogen werden konnten die Archive der DDR, die sich einer Zusammenarbeit verweigerte. Mit der Übernahme der Bestände des Zentralen Staatsarchivs der DDR nach 1990 gelangten daher sehr viele bislang nicht ausgewertete Unterlagen in das Bundesarchiv, wo 1992 die Vorarbeiten für eine erheblich erweiterte Neuauflage des Gedenkbuchs aufgenommen wurden.
In Wiesbaden selbst lässt sich anhand der Registratur und der Bestände des Stadtarchivs die Beschäftigung mit den Opfern des Holocaust bis in die späten 1940er Jahre zurückverfolgen.
Von 1948 datieren erste Anfragen an die Wiesbadener Garten- und Friedhofsverwaltung, die der ISD, die französische Gräberkommission, belgische, italienische, englische, amerikanische und andere Institutionen an die Stadtverwaltung richteten mit dem Ziel, in Wiesbaden bestattete Angehörige der jeweiligen Nationalität in ihre Heimat zu überführen. Eine Liste der Sterbefälle von Ausländern, die vermutlich bereits in der Kriegszeit vom Garten- und Friedhofsamt angefertigt wurde, enthält auch die Namen von 180 jüdischen Personen, die bis 1942 in Wiesbaden verstorben waren, darunter rund 70 Menschen, die aufgrund der Drangsalierungen oder angesichts der bevorstehenden Deportationen Suizid begingen. Die entsprechende Akte gelangte übrigens erst in das Stadtarchiv, als die Arbeiten an der Datenbank längst begonnen hatten.
Einen neuen und ganz anders gearteten Impuls erhielt die Beschäftigung mit den Opferdaten durch den damaligen SPD-Bundestagsabgeordneten und vormaligen Oberbürgermeister Rudi Schmitt (SPD). Nach einem Besuch der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem wandte er sich im April 1982 an seinen Amtsnachfolger als Oberbürgermeister, Bernd Oschatz (CDU), und schlug vor, die Namen der Wiesbadener Holocaustopfer in einem künstlerisch gestalteten Band zusammenzustellen und an Yad Vashem zu übergeben. Das Stadtarchiv wurde damit beauftragt, die in Frage kommenden Personen und deren Lebensdaten zu eruieren, und wandte sich hierzu an das Bundesarchiv, welches im Juni eine Liste „derjenigen Juden“ übersandte, „bei denen in den verfügbaren Quellen als Geburts- oder Wohnort Wiesbaden, Biebrich bzw. Erbenheim angegeben war“. Zu den sonstigen, seinerzeit nach Wiesbaden eingemeindeten Vororten konnte das Bundesarchiv hingegen damals keine Angaben machen, ebenso wenig zu jüdischen Personen, die nur kurzzeitig in Wiesbaden ansässig gewesen waren. Das Verzeichnis umfasste knapp 1 100 Namen und wurde dem Lehrer und Lokalhistoriker Lothar Bembenek übergeben, der sich im Rahmen des Projektes „Hessen im Nationalsozialismus“ am Hessischen Institut für Bildungsplanung und Schulentwicklung mit dem Thema „Nationalsozialismus in Wiesbaden“ befasste. Bembenek konnte aufgrund seiner Recherchen, unter anderem auch in polnischen Archiven, noch ergänzen, so dass am Ende 1147 Personen bekannt waren. Zugleich wies er auf vorhandene Lücken hin: Beispielsweise fehlten in der Liste die Wiesbadener Juden mit polnischer Staatsbürgerschaft. Hingegen schienen ihm die Vororte, bis auf Amöneburg, Mainz-Kastel und Mainz-Kostheim, komplett erfasst worden zu sein.
Übergabe in Israel: Durch den Oberbürgermeister und den Stadtverordnetenvorsteher
In den Folgemonaten wurde das Gedenkbuch mit dem Titel „Die Jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1933 – 1945 - Wiesbaden“ in dreifacher Ausfertigung von dem Kalligraphen und Designer Werner Schneider erstellt, der als Professor an der Wiesbadener Fachhochschule Kommunikationsdesign unterrichtete. Am 21. Oktober 1983 schaltete die Stadt Wiesbaden im „Aufbau“, der „führenden deutschsprachigen Zeitung Amerikas“, eine Annonce mit der Ankündigung, die Stadt werde, dem Beispiel anderer deutscher Städte folgend, der Gedenkstätte Yad Vashem einen Band mit 1147 Namen übergeben, die aus einem Verzeichnis des Bundesarchivs zusammengestellt worden seien. Im September 1984 wurde dieses Werk durch Oberbürgermeister Dr. Hans-Joachim Jentsch und Stadtverordnetenvorsteher Kurt Lonquich an Yad Vashem übergeben. Bei einem Besuch in Yad Vashem ließ Dr. Jacob Gutmark von der Jüdischen Gemeinde im Jahr darauf eine Ablichtung des Buches herstellen. 1988 konnte Lothar Bembenek der Jüdischen Gemeinde eine erheblich erweiterte Namenliste übergeben.
Die Ende 2001 dann einsetzenden Arbeiten im Stadtarchiv konzentrierten sich zunächst auf die in der Erstauflage des Gedenkbuches des Bundesarchivs erfassten Namen und Daten von Wiesbadener Juden. 2002 stellte die jüdische Gemeinde dem Stadtarchiv die so genannte Gestapo-Kartei zur Verfügung, die von 1938 an von der Gemeinde hatte geführt werden müssen. Das Stadtarchiv erhielt die Erlaubnis, diese Kartei zu kopieren. Diese Quelle enthält wertvolle Angaben zur Familienzusammengehörigkeit einzelner Personen, Daten von Eheschließungen, Hinweise zu Wohnungswechseln und Emigrationen. Vor allem aber gehen aus ihr auch die Deportationsdaten hervor. Allerdings ist diese Kartei nicht vollständig, denn in ihr werden nur knapp 1000 Gemeindemitglieder benannt, die in die Konzentrationslager verschleppt wurden.
Der nächste Arbeitsschritt bestand in der Erfassung des so genannten „Jüdischen Adressbuchs“ der Wiesbadener NSDAP aus dem Jahr 1935, das zum Zweck der systematischen Erfassung und Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung herausgegeben wurde und ca. 3000 Personennamen enthält, auch die von Kindern.
Alles erfasst: Gestapo Karteikarte von Dr. Daniel Kahn-Hut.
Abbildung: Jüdische Gemeinde Wiesbaden
StadtA WI NL 210 Nr. 1
Weitere Quellen: Adressbuch und Entschädigungsakte, Standesamt
Anhand dieses „Jüdischen Adressbuches“ ließ sich feststellen, dass der bislang von den Gedenkbüchern des Bundesarchivs nicht erfasste Personenkreis von Juden mit polnischer Staatsangehörigkeit ca. 155 Familien, bzw. rund 470 Personen umfasste. Aus der „Gestapo-Kartei“ waren bereits 130 Namen bekannt, die 1938 und 1939 in das westliche Ausland geflohen waren. Auch diese Personen waren noch nicht im Gedenkbuch des Bundesarchivs enthalten. Im Sommer 2002 ging der Bearbeiter daran, anhand einer zu diesem Zeitpunkt noch im Regierungspräsidium in dessen Funktion als Entschädigungsbehörde für den ehemaligen Regierungsbezirk Wiesbaden befindlichen rund 60 000 Namen umfassenden Kartei das Schicksal dieser Personen zu überprüfen. Nach den in der Kartei vermerkten Aktenzeichen wurden dann sukzessive rund 500 Entschädigungsakten ausgewertet. Diese Arbeit erlitt eine zeitweilige Unterbrechung dadurch, dass der Bestand an das Hessische Hauptstaatsarchiv Wiesbaden abgegeben wurde und hier nicht sofort für eine Benutzung zur Verfügung stand. Im Oktober 2002 enthielt die Datenbank des Stadtarchivs 1225 Namen jüdischer Opfer der NS-Gewaltherrschaft.
2004 war nach Abstimmungsgesprächen mit den politischen Gremien, den Vertretern der Jüdischen Gemeinde und des Aktiven Museums Spiegelgasse (AMS) vom Ausschuss für Schule und Kultur eine Planänderung beschlossen worden: Nunmehr sollten nicht mehr nur gebürtige Wiesbadener und solche, die von hier deportiert worden waren, in die Datenbank der Opfer aufgenommen werden, sondern möglichst auch solche Personen, die sich nur zeitweise in Wiesbaden aufgehalten hatten und von anderen Orten aus in den Tod geschickt wurden.
Nachdem bereits seit 2001 eine enge Kooperation mit einer Arbeitsgruppe des AMS vereinbart worden war, wurden seit 2007 in einem gemeinsam durchgeführten Projekt drei wissenschaft- liche Hilfskräfte mit weiteren Recherchen beauftragt. Ihre Aufgabe bestand in der Sichtung weiterer Entschädigungsakten sowie zusätzlich der so genannten Devisenakten im Hauptstaatsarchiv. Insgesamt wurden rund 1100 Einzelfallakten überprüft, wodurch das Schicksal 50 weiterer Personen aufgeklärt werden konnte. Im nächsten Arbeitsschritt wurden die Einträge in der inzwischen erschienenen, erweiterten Neuauflage des Gedenkbuches des Bundesarchivs mit der Datenbank des Stadtarchivs abgeglichen. Auf diese Weise konnten noch rund 150 Namen ergänzt werden. Im Zuge dieser Arbeiten wurde festgestellt, dass zur Klärung widersprüchlicher Angaben in den Quellen und Dateien die Standesamtsregister herangezogen werden müssten. Des Weiteren wurden bis 2007 die im Aktiven Museum Spiegelgasse gesammelten Unterlagen ausgewertet, darunter beispielsweise Briefe ehemals in Wiesbaden lebender Juden.
In der Zwischenzeit hatte die Protokollabteilung der Stadtverwaltung dem Archiv zudem mehrere Ordner mit Unterlagen zu den seit den 1980er Jahren durchgeführten Besuchsprogrammen für ehemalige jüdische Wiesbadenerinnen und Wiesbadener überlassen, in denen sich auch einige Berichte über Verfolgung und Deportation befanden. Einen weiteren wesentlichen Erkenntnisfortschritt erbrachte sodann die Auswertung der Standesamtsregister. Das Stadtarchiv erhielt 2008 vom Rechtsamt und der Standesamtsaufsicht die Erlaubnis, eine Studentin mit der Auswertung der Geburts‑, Heirats- und Sterberegister aus Wiesbaden und den eingemeindeten Vororten der Zeit von 1874 bis 1945 zu betrauen, die bis zum 1. Januar 2009 für die wissenschaftliche Nutzung vollkommen gesperrt waren. Hierbei lag der Schwerpunkt auf der Erfassung jüdischer Todesfälle bis 1945. Hierdurch und durch die Zusammenführung der unterschiedlichen Quellengattungen ergab sich letztlich die Erweiterung der Datenbank auf derzeit 1507 Namen.
Die in den vergangenen Jahren durchgeführten Forschungen haben ergeben, dass darüber hinaus 37 weitere Personen von den nationalsozialistischen Rassisten ermordet worden sind. Der Fries muss sukzessive um diese Namen ergänzt werden. Weitere Erkenntnisse bleiben allerdings abzuwarten.