(Fotograf: [FranzXaver] Süß)
Das von uns entworfene Denkmal beansprucht nicht, die Geschichte auf eine bestimmte Art zu interpretieren. Es lädt ein, eine persönliche Interpretation zu suchen sowie eine zeitgemäße Form für die kollektive Erinnerung zu finden. Der gestalterische Ansatz ist es, einen Ort in der Stadt zu schaffen, der für die heutigen sowie für die nachfolgenden Generationen die Möglichkeit bietet, sich dem Verarbeitungsprozess des Holocaust zu stellen.
Mahnung in der Stadtlandschaft
Eine Stadtlandschaft ist stets das präzise Abbild ihrer Geschichte, Abbild gesellschaftlicher Entscheidungen und historischer Entwicklungen. Die Bürger der Landeshauptstadt Wiesbaden haben sich entschlossen, in ihrer Stadtlandschaft ein deutliches Zeichen zu setzen, das vom Holocaust und der Ermordung der Wiesbadener und damit der europäischen Juden zeugt und die Geschichte des Ortes und des Naziterrors in ihrer Stadt abbildet. Im Gedenken an die ermordeten Juden werden am Ort der in der Reichspogromnacht zerstörten Synagoge am Michelsberg die bislang bekannten Namen von 1 507 ermordeten jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern bewahrt. Die, die nicht einmal ein Grab haben, erhalten damit einen Ort, an dem ihr Name deutlich sichtbar und bleibend genannt wird. Die hohen, das Namenband tragenden Wandscheiben des Denkmals zeugen von der Lücke — dem Verlust der Synagoge. Mit dem so entstandenen Gedenkraum erhalten die Opfer und die zerstörte Synagoge einen Platz im Stadtraum sowie im Alltag Wiesbadens. Erinnern steht hier für Mitnehmen in die Zukunft und für das Mahnen, dass so etwas nie wieder geschehen darf.
Detail Namenband
(Abbildung: Jüdische Gemeinde Wiesbaden. Fotograf: Igor Eisenschtat)
Annäherungen und Überlagerungen
Die Gedenkstätte steht im Spannungsfeld zwischen Gedenkraum und Stadtraum, zwischen Besucher und Namen der Opfer, zwischen Einzelnem und Gesellschaft. Sie verschränkt Innen und Außen, Gedenken und Alltag. Man kann sich hineinbegeben, verweilen oder vorbeigehen. Man kann kommen, um sich zu erinnern. Angehörige können ihrer Toten gedenken. Jedem Opfer ist ein individueller Namenstein gewidmet. Leere Namenssteine verweisen auf die Lücken in den Opferlisten, stehen für die, deren Schicksal bis heute ungeklärt ist.
Die Buchstaben der Namenssteine treten erhaben in den lebendigen Stadtraum hinein, können buchstäblich begriffen werden und wenden sich in ihrer plastischen Präsenz an die Gegenwart, die Lebenden. Ihre Erhabenheit gestattet eine haptische Annäherung, so wird ermöglicht, eine Verbindung, einen Kontakt mit den Opfern herzustellen. Der Besucher soll frei von vertrauten Assoziationen die Gedenkstätte betreten. Sie gibt Raum, sich einen eigenen Eindruck zu machen, ein individuelles, nicht vorgegebenes Gedenken zu entwickeln.
Die Synagoge und der Ort heute
Die Synagoge stand ursprünglich am Eingang zur Altstadt. Heute führt die Coulinstraße über deren ehemaliges Grundstück. Bis zum Bau der Gedenkstätte zeugten von der Geschichte des Ortes Gedenktafeln und ein Gedenkstein auf dem Treppenpodest sowie eine Markierung mit blauer Farbe auf dem Asphalt. Nach der Zerstörung der Synagoge und dem Bau und Abriss der Hochbrücke sind alle Reste des jüdischen Gotteshauses endgültig verloren. Auch bei den Grabungen im Rahmen der Baumaßnahmen für die Gedenkstätte wurden keine baulichen Überreste mehr gefunden. Zeugnis von der Synagoge geben einzig alte Pläne und Bilder und die daraus entwickelte virtuelle Rekonstruktion des Gebäudes sowie die umfangreichen Recherchen und die Erinnerungsarbeiten aus den letzten Jahren und Jahrzehnten.
Die bisherigen Formen der Erinnerung wurden aufgenommen und fortgeschrieben. Sie wurden nicht ersetzt, sondern erhalten im Denkmal einen Ort und Rahmen. Die Ergebnisse der Recherchen sind in Form der Erinnerungsblätter zudem auf einem Bildschirm an der Außenseite des Gedenkraumes einsehbar. Der Synagogengrundriss wird am authentischen Standort sichtbar. Der Stadteingang Michelsberg wird zum Platz. Die heute darüber verlaufende Coulinstraße spiegelt die Gegenwart. Der Ort der Synagoge wurde aus dem Hang herausgearbeitet und lesbar gemacht. Gegenwart und Vergangenheit spiegeln sich nun ineinander.
Aus all dem ist ein neuer Ort in der Stadtlandschaft gewachsen, ein Rahmen gegen das Vergessen, für Erinnerungen und gemeinsames Gedenken. Dieser Raum soll seinem Widmungszweck entsprechend im Gedächtnis der Stadt und ihrer Menschen zu fortgesetztem bürgerschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Engagement beitragen.
Die Gedenkstätte ist als Zeugin der Geschichte in der Stadtlandschaft verankert: zur ständigen Mahnung und als Auftrag für zukünftige positive gesellschaftliche Entwicklungen.