Von Bar­ba­ra Wille­cke Dipl.-Ing. Land­schafts­ar­chi­tek­tin BDLA, Büro pla­nung freiraum

Ein deut­li­ches Zeichen

Geden­ken im Stadt­raum — Anlie­gen und Auftrag

(Foto­graf: [Fran­zX­a­ver] Süß)

Das von uns ent­wor­fe­ne Denk­mal bean­sprucht nicht, die Geschich­te auf eine bestimm­te Art zu inter­pre­tie­ren. Es lädt ein, eine per­sön­li­che Inter­pre­ta­ti­on zu suchen sowie eine zeit­ge­mä­ße Form für die kol­lek­ti­ve Erin­ne­rung zu fin­den. Der gestal­te­ri­sche Ansatz ist es, einen Ort in der Stadt zu schaf­fen, der für die heu­ti­gen sowie für die nach­fol­gen­den Gene­ra­tio­nen die Mög­lich­keit bie­tet, sich dem Ver­ar­bei­tungs­pro­zess des Holo­caust zu stellen.

Mah­nung in der Stadtlandschaft

Eine Stadt­land­schaft ist stets das prä­zi­se Abbild ihrer Geschich­te, Abbild gesell­schaft­li­cher Ent­schei­dun­gen und his­to­ri­scher Ent­wick­lun­gen. Die Bür­ger der Lan­des­haupt­stadt Wies­ba­den haben sich ent­schlos­sen, in ihrer Stadt­land­schaft ein deut­li­ches Zei­chen zu set­zen, das vom Holo­caust und der Ermor­dung der Wies­ba­de­ner und damit der euro­päi­schen Juden zeugt und die Geschich­te des Ortes und des Nazi­ter­rors in ihrer Stadt abbil­det. Im Geden­ken an die ermor­de­ten Juden wer­den am Ort der in der Reichs­po­grom­nacht zer­stör­ten Syn­ago­ge am Michels­berg die bis­lang bekann­ten Namen von 1 507 ermor­de­ten jüdi­schen Mit­bür­ge­rin­nen und Mit­bür­gern bewahrt. Die, die nicht ein­mal ein Grab haben, erhal­ten damit einen Ort, an dem ihr Name deut­lich sicht­bar und blei­bend genannt wird. Die hohen, das Namen­band tra­gen­den Wand­schei­ben des Denk­mals zeu­gen von der Lücke — dem Ver­lust der Syn­ago­ge. Mit dem so ent­stan­de­nen Gedenk­raum erhal­ten die Opfer und die zer­stör­te Syn­ago­ge einen Platz im Stadt­raum sowie im All­tag Wies­ba­dens. Erin­nern steht hier für Mit­neh­men in die Zukunft und für das Mah­nen, dass so etwas nie wie­der gesche­hen darf.

Detail Namenband Michelsberg Wiesbaden - Abbildung: Jüdische Gemeinde Wiesbaden, Fotograf: Igor Eisenschtat

Detail Namen­band
(Abbil­dung: Jüdische Gemein­de Wies­ba­den. Foto­graf: Igor Eisenschtat)

Annä­he­run­gen und Überlagerungen

Die Gedenk­stät­te steht im Span­nungs­feld zwi­schen Gedenk­raum und Stadt­raum, zwi­schen Besu­cher und Namen der Opfer, zwi­schen Ein­zel­nem und Gesell­schaft. Sie ver­schränkt Innen und Außen, Geden­ken und All­tag. Man kann sich hin­ein­be­ge­ben, ver­wei­len oder vor­bei­ge­hen. Man kann kom­men, um sich zu erin­nern. Ange­hö­ri­ge kön­nen ihrer Toten geden­ken. Jedem Opfer ist ein indi­vi­du­el­ler Namen­s­tein gewid­met. Lee­re Namens­stei­ne ver­wei­sen auf die Lücken in den Opfer­lis­ten, ste­hen für die, deren Schick­sal bis heu­te unge­klärt ist.

Die Buch­sta­ben der Namens­stei­ne tre­ten erha­ben in den leben­di­gen Stadt­raum hin­ein, kön­nen buch­stäb­lich begrif­fen wer­den und wen­den sich in ihrer plas­ti­schen Prä­senz an die Gegen­wart, die Leben­den. Ihre Erha­ben­heit gestat­tet eine hap­ti­sche Annä­he­rung, so wird ermög­licht, eine Ver­bin­dung, einen Kon­takt mit den Opfern her­zu­stel­len. Der Besu­cher soll frei von ver­trau­ten Asso­zia­tio­nen die Gedenk­stät­te betre­ten. Sie gibt Raum, sich einen eige­nen Ein­druck zu machen, ein indi­vi­du­el­les, nicht vor­ge­ge­be­nes Geden­ken zu entwickeln.

Die Syn­ago­ge und der Ort heute

Die Syn­ago­ge stand ursprüng­lich am Ein­gang zur Alt­stadt. Heu­te führt die Coulin­stra­ße über deren ehe­ma­li­ges Grund­stück. Bis zum Bau der Gedenk­stät­te zeug­ten von der Geschich­te des Ortes Gedenk­ta­feln und ein Gedenk­stein auf dem Trep­pen­po­dest sowie eine Mar­kie­rung mit blau­er Far­be auf dem Asphalt. Nach der Zer­stö­rung der Syn­ago­ge und dem Bau und Abriss der Hoch­brü­cke sind alle Res­te des jüdi­schen Got­tes­hau­ses end­gül­tig ver­lo­ren. Auch bei den Gra­bun­gen im Rah­men der Bau­maß­nah­men für die Gedenk­stät­te wur­den kei­ne bau­li­chen Über­res­te mehr gefun­den. Zeug­nis von der Syn­ago­ge geben ein­zig alte Plä­ne und Bil­der und die dar­aus ent­wi­ckel­te vir­tu­el­le Rekon­struk­ti­on des Gebäu­des sowie die umfang­rei­chen Recher­chen und die Erin­ne­rungs­ar­bei­ten aus den letz­ten Jah­ren und Jahrzehnten.

Die bis­he­ri­gen For­men der Erin­ne­rung wur­den auf­ge­nom­men und fort­ge­schrie­ben. Sie wur­den nicht ersetzt, son­dern erhal­ten im Denk­mal einen Ort und Rah­men. Die Ergeb­nis­se der Recher­chen sind in Form der Erin­ne­rungs­blät­ter zudem auf einem Bild­schirm an der Außen­sei­te des Gedenk­rau­mes ein­seh­bar. Der Syn­ago­gen­grund­riss wird am authen­ti­schen Stand­ort sicht­bar. Der Stadt­ein­gang Michels­berg wird zum Platz. Die heu­te dar­über ver­lau­fen­de Coulin­stra­ße spie­gelt die Gegen­wart. Der Ort der Syn­ago­ge wur­de aus dem Hang her­aus­ge­ar­bei­tet und les­bar gemacht. Gegen­wart und Ver­gan­gen­heit spie­geln sich nun ineinander.

Aus all dem ist ein neu­er Ort in der Stadt­land­schaft gewach­sen, ein Rah­men gegen das Ver­ges­sen, für Erin­ne­run­gen und gemein­sa­mes Geden­ken. Die­ser Raum soll sei­nem Wid­mungs­zweck ent­spre­chend im Gedächt­nis der Stadt und ihrer Men­schen zu fort­ge­setz­tem bür­ger­schaft­li­chen, poli­ti­schen und gesell­schaft­li­chen Enga­ge­ment bei­tra­gen.
Die Gedenk­stät­te ist als Zeu­gin der Geschich­te in der Stadt­land­schaft ver­an­kert: zur stän­di­gen Mah­nung und als Auf­trag für zukünf­ti­ge posi­ti­ve gesell­schaft­li­che Entwicklungen.

In Anleh­nung an die Bau­his­to­rie: Grund­riss der Gedenk­stät­te für die ermor­de­ten Wies­ba­de­ner Juden
(Abbil­dung: pla­nung . freiraum)

Mar­kie­rung des Grund­ris­ses der Syn­ago­ge im Stadtraum.
(Abbil­dung: pla­nung . freiraum)

(Foto­graf: [Fran­zX­a­ver] Süß)

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Wolf­gang Nickel zur Grundsteinlegung
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