Von Diet­rich Schwarz, frü­he­rer Geschäfts­füh­rer der SEG Stadt­ent­wick­lungs­ge­sell­schaft Wies­ba­den mbH

Der Weg zur Gedenkstätte

Gedenk­stät­te für die ermor­de­ten Wies­ba­de­ner Juden
(Foto­graf: [Fran­zX­a­ver] Süß)

Die Lage der Syn­ago­ge: Ent­wäs­se­rungs­plan für das Grund­stück der Syn­ago­ge aus dem Jahr 1889.
(Abbil­dung: StadtA WI WI/2 Nr. 4902)

Der Weg zur Gedenkstätte

Dort, wo sich heu­te am Michels­berg die Gedenk­stät­te für die ermor­de­ten Wies­ba­de­ner Juden befin­det, stand seit 1869 die neue Syn­ago­ge, ein präch­ti­ger Bau des Archi­tek­ten Phil­ipp Hoff­mann im byzan­ti­ni­schen Stil. In der Reichs­po­grom­nacht vom 9. Novem­ber 1938 fiel sie der Brand­stif­tung und voll­stän­di­gen Zer­stö­rung anheim. Nach dem Ende des Zwei­ten Welt­kriegs war nichts mehr von ihr übrig geblie­ben. Nur eine Ste­le aus dem Jahr 1953 erin­ner­te noch an ihren alten Stand­ort. Die Coulin­stra­ße führ­te schon in den 50er Jah­ren mit­ten durch den alten Grund­riss der zer­stör­ten Synagoge.

Pietätlose Straßenführung: die Hochbrücke am Michelsberg Wiesbaden 1994.

Pie­tät­lo­se Stra­ßen­füh­rung: die Hoch­brü­cke am Michels­berg 1994.
(Abbil­dung: Archi­tekt Hein­rich Lessing)

Anfang der 70er Jah­re schien die Syn­ago­ge in Ver­ges­sen­heit gera­ten zu sein, als die Stadt Wies­ba­den – dem Zeit­geist der auto­ge­rech­ten Stadt fol­gend – für den Auto­ver­kehr eine Hoch­brü­cke von der benach­bar­ten Schwal­ba­cher Stra­ße hin zur Coulin­stra­ße bau­en ließ, die quer über das ehe­ma­li­ge Syn­ago­gen­grund­stück führ­te. Erst als sich 30 Jah­re spä­ter die Ein­stel­lun­gen zur Stadt­pla­nung gewan­delt hat­ten und die Hoch­brü­cke infol­ge des­sen wie­der abge­ris­sen wur­de, war der Weg frei gege­ben, sich mit der Neu­ge­stal­tung des Syn­ago­gen­plat­zes am Michels­berg zu befassen.

Der jüdi­schen Opfer des Holo­caust aus Wies­ba­den am Stand­ort der ehe­ma­li­gen Syn­ago­ge nament­lich zu geden­ken, war seit lan­gem ein beson­de­res Anlie­gen des Ver­eins Akti­ves Muse­um deutsch-jüdi­­scher Geschich­te gewe­sen. Im Jah­re 2003 hat­te der Ver­ein damit begon­nen, in einer Vitri­ne am Michels­berg „Erin­ne­rungs­blät­ter“ mit den Bio­gra­fien ermor­de­ter jüdi­scher Bür­ge­rin­nen und Bür­ger zu präsentieren.

In Anleh­nung an die Bau­his­to­rie: Grund­riss der Gedenk­stät­te für die ermor­de­ten Wies­ba­de­ner Juden.
(Abbil­dung: pla­nung . freiraum)

Form kol­lek­ti­ver Erin­ne­rung gesucht: Der Architekturwettbewerb

Die ver­schie­de­nen Initia­ti­ven zur Errich­tung einer Gedenk­stät­te am Michels­berg – in beson­de­rer Wei­se geför­dert durch die dama­li­ge Stadt­ver­ord­ne­ten­vor­ste­he­rin Ange­li­ka Thiels (1941 – 2009) – mün­de­ten im Juni 2005 schließ­lich in einen Beschluss der Wies­ba­de­ner Stadt­ver­ord­ne­ten­ver­samm­lung, „für das nament­li­che Geden­ken an die vom NS-Regime ermor­de­ten Wies­ba­de­ner Juden“ einen städ­te­bau­li­chen Ideen­wett­be­werb für den Bereich der ehe­ma­li­gen Syn­ago­ge aus­zu­schrei­ben. Die Auf­ga­be der ein­ge­la­de­nen Archi­tek­tur­bü­ros bestand dar­in, Vor­schlä­ge für eine Neu­ge­stal­tung des Bereichs um die ehe­ma­li­ge Syn­ago­ge ein­zu­rei­chen. Die Ver­kehrs­funk­ti­on der viel befah­re­nen Coulin­stra­ße, die heu­te den frü­he­ren Stand­ort der alten Syn­ago­ge durch­schnei­det, soll­te auf­recht erhal­ten blei­ben. Aus die­sem Archi­tek­tur­wett­be­werb ging die Land­schafts­ar­chi­tek­tin Bar­ba­ra Wille­cke aus Ber­lin mit ihrem Büro pla­nung frei­raum als Sie­ge­rin her­vor. Ihr Ent­wurf für den Bau der 2011 fer­tig gestell­ten Gedenk­stät­te soll­te rea­li­siert werden.

Grund­stein­le­gung im Mai 2010: Ober­bür­ger­meis­ter Dr. Hel­mut Mül­ler, Gemein­de­vor­stands­mit­glied Dr. Jacob Gut­mark und Stadt­ver­ord­ne­ten­vor­ste­her Wolf­gang Nickel
(Foto­graf: Oli­ver Hebel)

Noch war eine Viel­zahl von Pla­nungs­fra­gen zu klä­ren, wie beson­ders die kon­struk­ti­ve Ver­an­ke­rung der sie­ben Meter hohen Stahl­be­ton­wän­de im Hang zum Schul­berg und die Ver­wen­dung eines wider­stands­fä­hi­gen Natur­stein­ma­te­ri­als im Bereich der Fahr­bahn der Coulin­stra­ße. Im April 2010 konn­ten die Bau­ar­bei­ten schließ­lich begin­nen. Die fei­er­li­che Grund­stein­le­gung fand am 21. Mai 2010 statt. Am 27. Janu­ar 2011, dem natio­na­len Gedenk­tag für die Opfer des NS-Regimes, wur­de die Gedenk­stät­te der Wies­ba­de­ner Öffent­lich­keit nach Bau­fer­tig­stel­lung fei­er­lich übergeben.

Sand­ge­strahl­te Glas­schei­be mit his­to­ri­scher Innenraumaufnahme
(Abbil­dung: Jüdische Gemein­de Wies­ba­den. Foto­graf: Igor Eisenschtat)

Mit Gedenk­raum und Namen­band: Der Bau in sei­nen Details

Das Namen­band mit Nen­nung der jüdi­schen Opfer des Holo­caust aus Wies­ba­den stellt den zen­tra­len Bestand­teil des Denk­mals dar. Wei­te­re Haupt­ele­men­te sind die Wand­schei­ben, die den Gesamtraum der Gedenk­stät­te in der Stadt auf­zei­gen und die Mar­kie­rung von Grund­riss und Sockel der zer­stör­ten Syn­ago­ge. Der west­li­che Wand­ab­schnitt wird durch eine etwa 80 Zen­ti­me­ter brei­te Glas­schei­be geteilt, in die der rekon­stru­ier­te Innen­raum der Syn­ago­ge ein­gra­viert ist, eine Arbeit des Wies­ba­de­ner Künst­lers Nabo Gaß nach einem Ent­wurf von Hein­rich Lessing.

In alpha­be­ti­scher Rei­hen­fol­ge: das Band mit den Namen der Ermordeten.
(Foto­graf: [Fran­zX­a­ver] Süß)

Auf der Innen­sei­te der Wand­schei­ben ist auf Augen­hö­he ein etwa 1,20 Meter hohes Band ein­ge­las­sen, das die bis 2011 bekann­ten Namen der 1507 jüdi­schen Opfer trägt, in alpha­be­ti­scher Rei­hen­fol­ge nach Fami­li­en­na­men geord­net. Der Name eines jeden Opfers wird auf einer eige­nen Natur­stein­plat­te mit Vor­na­men, Fami­li­en­na­men, Geburts­na­me bei ver­hei­ra­te­ten Frau­en, Geburts- und Ster­be­jahr sowie dem Ster­be­ort genannt.

Mar­kie­rung des Grund­ris­ses der Syn­ago­ge im Stadtraum.
(Abbil­dung: Jüdi­sche Gemein­de Wies­ba­den. Foto­graf: Igor Eisenschtat)

Die Buch­sta­ben sind mit einer Erha­ben­heit von etwa fünf Mil­li­me­tern gefer­tigt, um sie auch hap­tisch „begrei­fen“ zu kön­nen. Die fünf Zen­ti­me­ter hohen und 50 bis 120 Zen­ti­me­ter lan­gen Natur­stein­plat­ten aus viet­na­me­si­schem Basalt sind in Far­be und Mate­ri­al dem der Wand­schei­ben ähn­lich, unter­schei­den sich aber durch eine fei­ne­re Ober­flä­chen­tex­tur. Um wei­te­re Namen, die womög­lich spä­ter noch recher­chiert wer­den, inte­grie­ren zu kön­nen, wer­den Leer­stei­ne hin­zu­ge­fügt. Das Band ist in die Wand ver­tieft ein­ge­legt. Auf der so ent­stan­de­nen Kan­te der Ver­tie­fung kön­nen „Stei­ne der Erin­ne­rung“ gelegt wer­den. Mit Ein­bruch der Dun­kel­heit wird das Namen­band beleuchtet.

Auf den Außen­li­ni­en des Sockels der Syn­ago­ge ste­hen sie­ben Meter hohe Wand­schei­ben, die auf einer Gesamt­län­ge von 62 Metern den „Leer­raum“ sowie den Stand­ort der zer­stör­ten Syn­ago­ge mar­kie­ren. Die schma­len, gemau­er­ten Natur­stein­bän­der bestehen aus arme­ni­scher Basaltlava.

Die gesam­te Flä­che des Gedenk­or­tes ist in grau­em Plat­ten­be­lag aus chi­ne­si­schem Basalt ange­legt. Um den Ort als Gesamt­ein­heit zu begrei­fen, ist das Mate­ri­al des Belags farb­lich den Wand­schei­ben ange­passt. Auf dem Boden des Gedenk­rau­mes sowie auf der Fahr­bahn wird die Grund­flä­che der Syn­ago­ge nach­ge­bil­det. Hier­für wird eine zum umge­ben­den Plat­ten­be­lag kon­tras­tie­ren­de Stein­ober­flä­che ver­wen­det. Die Ober­kan­te des Sockels der ehe­ma­li­gen Syn­ago­ge wird auf den Wand­schei­ben durch eine her­vor­tre­ten­de Natur­stein­schicht nach­ge­bil­det. Die­se Mar­kie­rung ver­mit­telt einen Ein­druck von der Grö­ße der ehe­ma­li­gen Syn­ago­ge und rhyth­mi­siert zugleich die Wandflächen.

(Foto­graf: [Fran­zX­a­ver] Süß)

Der neue Stadt­raum: Kon­tra­punkt zur Geschichtslosigkeit

Der auf­ge­spann­te Innen­raum der Gedenk­stät­te glie­dert sich funk­tio­nal in den begeh­ba­ren Gedenk­raum im ein­ge­schnit­te­nen Hang und den angren­zen­den Bereich mit der die Anla­ge durch­que­ren­den Coulinstaße.

Der Platz am Michels­berg bil­det das Gegen­über des Gedenk­or­tes und fügt sich har­mo­nisch ins Bild der angren­zen­den Fuß­gän­ger­zo­ne ein. Hier ist eine Infor­ma­ti­ons­ta­fel mit inte­grier­tem Touch­­screen-Moni­­tor ange­bracht, die Aus­kunft über das Denk­mal und die ehe­ma­li­ge Syn­ago­ge gibt. Besu­cher kön­nen dort zudem die „Erin­ne­rungs­blät­ter“ des Akti­ven Muse­ums Spie­gel­gas­se abru­fen, die über das Schick­sal ein­zel­ner jüdi­scher Opfer Wies­ba­dens informieren.

In den Bau der Gedenk­stät­te am Stand­ort der ehe­ma­li­gen Syn­ago­ge wird gleich­zei­tig die Neu­ge­stal­tung des Michels­bergs als Fuß­gän­ger­be­reich mit Auf­ent­halts­qua­li­tät ein­be­zo­gen. Auf die­se Wei­se ent­steht ein völ­lig neu gestal­te­ter Stadt­raum, der am Ein­gang zum alten Stadt­zen­trum von Wies­ba­den an ver­gan­ge­ne Bau­struk­tu­ren erin­nert. Mit der Rea­li­sie­rung des Kon­zepts setzt die Stadt Wies­ba­den bewusst einen Kon­tra­punkt zur gesichts­lo­sen Geschichts­lo­sig­keit, in der die vor Jah­ren abge­ris­se­ne Hoch­brü­cke die­sen Teil der Stadt frü­her durch­schnit­ten hatte.

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